„Still, Schneesturm“, murmelte der Schamane. „Dein Jagdbruder wird bald befreit werden...“
Doch die Wölfin versuchte, aus dem Fenster zu klettern. Obwohl die Fensteröffnungen nicht gerade klein waren, reichten sie für den riesigen Jäger nicht aus. Mit einem frustrierten Knurren wandte sich Schneesturm um und sprang auf die geschlossene Tür zu.
Die Augen des Schamanen weiteten sich. „Öffnet sie! Schnell!“
Eine der Wachen gehorchte eiligst. Kaum hatte er die Tür aufgerissen, da donnerte Schneesturm in ihn hinein. Wie ein loses Blatt, das von einem wilden Sturm getroffen wurde, flog der kräftige Orc zurück und krachte schließlich gegen die Wand. Die Wölfin rannte unbeeindruckt weiter.
„Folgt ihr!“, befahl der ältliche Schamane. „Sie wittert etwas...“
Verfolgt von den Orcs raste die Wölfin durch die Burg. Sie blieb an zwei Fenstern stehen, die jedoch auch nicht groß genug waren. Schließlich jagte sie auf die großen Tore am Vordereingang zu.
Die Wachen dort versteiften sich bei dem erstaunlichen Anblick, der auf sie zurannte. Bevor der Schamane ihnen etwas zurufen konnte, war einer schlau genug, eine der Türen aufzudrücken. Wenn die Wölfin mit einem derartigen Tempo auf die Außentore zustürmte, dann, so hatte die Wache angenommen, drohte Gefahr.
Schneesturm lief hinaus. Der Wölfin blieb kurz stehen, bestimmte die Richtung neu und rannte dann auf die Stadtmauern von Orgrimmar zu.
Obwohl er weit älter als seine Begleiter war, überraschte der Schamane sie, indem er schneller war. Mit geschmeidigen Bewegungen, die denen der Wölfin ähnelten, hielt er fast mit Schneesturm Schritt. Es gab andere Methoden, mit deren Hilfe er sich noch schneller hätte bewegen können. Doch eine angeborene Vorsicht hielt ihn zurück.
Trolle und Orcs, die allesamt ihren Geschäften nachgingen, sprangen Schneesturm aus dem Weg. Die meisten zogen gleich ihre Waffen. Orgrimmar stand unter Hochalarm, und die Eile der Wölfin schien vielen wie ein Zeichen, dass die Zeit zum Kämpfen gekommen war.
Der Schamane blickte sich um. Trotz ihrer großen Zahl waren weit weniger Verteidiger in Orgrimmar anwesend, als es hätten sein sollen. Und als sie sich der Mauer näherten, erkannte er, dass der Nebel weiter in die Hauptstadt vorgedrungen war. Es war fast unmöglich, die Wachen oben auf der Mauerkrone zu erkennen.
Nicht zum ersten Mal wünschte sich der alte Orc, dass nicht ausgerechnet die erfahrensten Kämpfer und Schamanen zu den Ersten gehört hatten, die wie Thrall nicht mehr aufwachten.
Schneesturm rannte nicht den ganzen Weg die Stufen zum Wachturm nach oben hinauf. Stattdessen fand die weiße Wölfin Halt auf einer Leiter zu einer der niedrigeren Ebenen. Dort suchte sich das schlaue Tier selbstständig den Weg, bis es schließlich die Spitze der Mauer erreicht hatte.
Das frostige Fell der Wölfin fiel selbst in dem dichten smaragdgrünen Nebel auf. Der Schamane kletterte hinter dem Tier her. Dabei bemerkte er, dass eine der Wachen sich nicht mehr rührte.
„Was quält dich?“, wollte der Orc wissen. Als der Wachtposten nicht antwortete, berührte der Schamane ihn am Arm.
Erst dann fiel der Kopf des Orcs zur Seite.
Der Schamane dachte zuerst, dass der Krieger tot war. Doch als er eine Hand auf seine Brust legte, stellte er fest, dass sein Herz noch schlug. Er blickte ihm ins Gesicht und erkannte, dass die Augen geschlossen waren.
Obwohl er stand, schlief der Wächter.
Der Schamane blickte zum nächsten... und sah dasselbe.
Einige der Wachen, die ihm gefolgt waren, erreichten die Mauerkrone. Sie starrten mit Erstaunen auf ihre Kameraden.
„Schick eine Nachricht!“, befahl der ältere Orc. „Such ein paar Krieger, die die Mauer beschützen...“
Schneesturm heulte wieder klagend. Die Wölfin stand auf den Hinterbeinen, ihre Vorderpfoten waren auf die Mauerkrone gestützt, sodass sie über Orgrimmar hinaussehen konnte.
Die Orcs blickten in dieselbe Richtung, in die Schneesturm schaute.
Im Nebel bewegten sich Gestalten. Es waren Hunderte oder mehr.
Eine der Wachen nahm ein Horn, das an einem hölzernen Aufhänger an der Innenseite der Mauer hing. Doch bevor der Orc es an den Mund heben konnte, erstarrte er, genauso wie der Schamane und die anderen.
Die Gestalten waren an den Rand des Nebels getreten.
Es waren Orcs.
„Grago“, grunzte ein Krieger überrascht. „Mein Bruder schläft... doch ich sehe ihn dort draußen...“
„Hidra... meine Gefährtin marschiert mit ihnen!“, keuchte ein anderer.
„Das ist ein Trick!“, meinte ein weiterer. „Magier-Tricks! Die Allianz...“
„Es ist nicht die Allianz“, stellte der Schamane schlicht fest. Er beugte sich vor. „Es sind die Schlafenden... alle von ihnen...“
Als er das sagte, schien sich seine Angst zu erfüllen. Thrall stand plötzlich dort, doch es war ein Thrall, der eine groteske Parodie des Kriegshäuptlings war. Seine Haut hing an ihm herab, als würde sie verwesen, und die Knochen schauten hervor. Seine Augen leuchteten rot... dasselbe Rot, wie die befleckten Dämonen es trugen.
Jeder der schattenhaften Orcs hatte solche Augen.
„Ein Trick!“, raunte der Krieger ängstlich. „Sie halten uns zum Narren! Illusionen! Ich sage immer noch, dass die Allianz dahintersteckt!“
Der Schamane sagte nichts, studierte die Gestalt Thralls so genau, wie er es wagte. Er versuchte, nicht den düsteren Blick zu treffen... doch schließlich konnte er nicht anders.
Eine große dunkle Leere mit einem unangenehmen grünen Farbton schien sich vor ihm zu öffnen. Nur mit Mühe schaffte es der Schamane, seine Augen davon zu lösen.
Doch in diesem kurzen Moment hatten sich seine schlimmsten Ängste bewahrheitet.
Es war Thrall... oder zumindest einige Essenz von ihm.
Dem alten Orc war in dem kurzen schrecklichen Moment des Kontakts etwas klar geworden. Diese albtraumhaften Versionen der Schläfer warteten auf ein Signal. Wenn das Signal kam, würde die böse Macht, die diese Schatten repräsentierten, über Orgrimmar herfallen. Nicht in einem wahren physischen Kampf natürlich. Die großen Legionen der Kreaturen, die wie die Blutsverwandten der Verteidiger aussahen, dienten nur dazu, sie zu ängstigen. Wenn die Dunkelheit zuschlug... würde es jeden Krieger dort erwischen, wo er sich am wenigsten verteidigen konnte.
In der Seele.
Dass der Angriff noch nicht geschehen war, gab dem Schamanen nicht viel Hoffnung. Das Signal – was immer es auch sein würde – stand kurz bevor. Sehr kurz bevor.
„Wir müssen die anderen alarmieren...“, sagte der Schamane, als er von der Wand zurücktrat. „Wir müssen uns alle bereit machen, jung und alt...“
Doch was er nicht sagte, als er sich zum Gehen umwandte, war, dass es gegen solch einen Feind, der wahrscheinlich nicht von einer Axt gefällt werden konnte, nur sehr wenig gab, was die Verteidiger von Orgrimmar anderes tun konnten, als zu sterben.
Broll dachte, dass er Arei verloren hatte. Doch dann kehrte das Urtum zu ihm zurück.
„Bleib in der Nähe. Wir sind sehr nah dran. Er weiß, dass wir kommen.“
„Er?“
Bevor das Urtum etwas antworten konnte, umgab sie plötzlich eine noch dichtere smaragdgrün gefärbte Finsternis.
Stimmen drangen in Brolls Hirn. Ein Schauder erfasste sein Herz. Es war, als würde ihm die Haut bei lebendigem Leib vom Körper gerissen. Und unter den Stimmen erklangen die Schreie seiner Tochter. Der Druide wurde in einen Abgrund gezerrt, Hände rissen verzweifelt an ihm und zogen ihn immer tiefer hinein... tiefer und tiefer...
Hinfort mit euch!, befahl eine neue, sehr lebhafte Stimme, die dem Nachtelfen Halt gab. Das Stimmengewirr verschwand. Die Hände verschwanden. Der Schauder in seinem Herzen verging...
Die Dunkelheit legte sich wieder über den immer noch bedrohlichen Nebel. Broll bemerkte, dass er keuchend auf den Knien lag. Eine Hand hatte er an die Brust gepresst.