Ein sanftes Licht umgab den Druiden. Broll hob den Blick.
„Remulos?“, stieß er hervor.
Doch obwohl die leuchtende Gestalt dem Wächter der Mondlichtung ähnlich sah, erkannte Broll schnell, dass er es nicht war. Anders als er oder das Urtum war dieses Wesen nicht von fester Gestalt.
Der Nachtelf schluckte schwer, als er schließlich erkannte, wer dort vor ihm stand – nein, schwebte.
Der Grund für die Ähnlichkeit zu Remulos war offensichtlich, es war der Bruder des Halbgottes... Zaetar.
Doch Zaetar war tot.
Broll sprang auf. Zaetar hatte sich in Theradras verliebt, einen weiblichen Erdelementar. Mit ihr, so die Legende, hatte er den ersten Zentauren gezeugt. Doch Zaetars gewalttätige Kinder hatten ihm ihre Existenz wenig gedankt und den Hüter des Waldlandes getötet. Die Legende besagte, dass Theradras, von Gram zerfressen, ihn nicht gehen lassen konnte und deshalb seine Überreste versteckt hatte.
Bleib ganz ruhig!, sagte der Riese, der ebenfalls ein Geweih trug. Sein Mund bewegte sich nicht, doch Broll verstand die Worte klar und deutlich. Deine Sorge ist verständlich, doch die Wahrheit hat sich geändert...
Zaetar war von grünerer Farbe als sein noch lebender jüngerer Bruder, was selbst in dieser Umgebung und trotz der Tatsache, dass er nicht aus Fleisch bestand, offensichtlich war. Ansonsten waren die beiden titanischen Gestalten ganz eindeutig die Söhne des Cenarius. Zaetars Gesicht war ein wenig länger, und darin lag eine stete Traurigkeit – wenig verwunderlich angesichts seiner derzeitigen Lage.
Der Druide blickte Arei an, der ihm zunickte. Das Urtum des Krieges schien hagerer zu sein al s kurz vor dem Angriff auf Broll, weshalb der Nachtelf sich fragte, ob Arei ebenfalls gelitten hatte.
Ihr wurdet beide vom Albtraum berührt, obwohl Arei besser darauf vorbereitet war, sagte Zaetar. Offensichtlich hatte er Brolls Gedanken gelesen. Broll wurde noch vorsichtiger...
Wir sind Verbündete, Broll Bärenfell, erklärte der Geist und zeigte dem Nachtelf die offenen Handflächen. Als er „sprach“, schien Zaetars Gestalt zu wabern, als wäre sie ein Teil des Nebels.
„Er hat uns durch diese Prüfung geführt“, fügte Arei hinzu, „und er ist einer der Gründe, warum wir noch leben...“
Obwohl es fraglich ist, ob wir noch länger als die paar Wochen durchhalten können, die wir haben...
„Ein paar Wochen?“, platzte Broll heraus. „Ihr kämpft hier schon seit ein paar Wochen?“
Der Gesichtsausdruck des Geistes verfinsterte sich. Er blickte weg.
„Als wir hier eintrafen, hatten Zaetar und seine Kampfgefährten geglaubt, sie wären schon länger als ein Jahr hier. Dabei waren doch nur ein paar Wochen verstrichen“, antwortete das Urtum des Krieges. Es runzelte die raue Stirn. „Was für ein Tag war, als du hier eingetreten bist, Broll Bärenfell?“
Der Nachtelf sagte es ihm.
Areis Schock war offensichtlich. „Nur elf Tage? Ich war mir sicher, dass wir schon eine ganze Jahreszeit lang hier sind...“
Der Albtraum verdreht die Zeit auch an diesem Ort, sagte Zaetar wütend. Alles hier ist bedeutungslos, mit Ausnahme des Kampfes...
„Ihr habt von anderen berichtet, die ebenfalls gegen den Albtraum kämpften“, sagte Broll und überlegte, ob nicht zumindest einer von ihnen Tyrande gefunden haben konnte. „Ich hoffe, dass sie mir bei der Suche nach meiner Begleiterin helfen können! Wo sind sie?“
Jetzt machte der Geist ein grimmiges Gesicht. Er wies in den dunklen Nebel hinein. Druide, sie sind um uns herum...
Als Zaetar das sagte, schien seine Hand den verderbten Nebel um sie herum zurückzudrängen. Die Luft klärte sich zwar nicht gerade, doch Broll konnte nun ein wenig in die Ferne blicken.
Und was er sah, schockierte ihn.
Die anderen standen allein oder in kleinen Gruppen. Sie waren so weit verteilt, wie er durch den Nebel blicken konnte, und er hatte keinen Zweifel daran, dass weiter draußen noch weitere waren. Es waren Druiden, Urtume des Krieges, Dryaden und einige andere Wesen mit Bindungen an Azeroth und den Smaragdgrünen Traum. Einige waren von fester Gestalt, andere existierten in ihrer Traumgestalt. Ein paar waren wie Zaetar.
Broll erkannte einige der Traumgestalten, und der Schrecken überwältigte ihn beinahe. Es waren Druiden, die auf Azeroth schon lange als verschollen galten. Ihre Körper brauchten dringend Nahrung und Wasser. Einige waren schon seit Monaten tot, doch ihre Traumgestalt schien nicht zu erkennen, dass es für sie keine Rückkehr mehr gab.
Vielleicht war es ihnen doch bewusst, denn viele von ihnen kämpften in den vordersten Reihen und wagten viel, um den Albtraum aufzuhalten.
Der Albtraum selbst kam in Gestalt derselben grässlichen Finsternis, die Broll erst kürzlich überwältigt hatte. Sie ähnelte am ehesten einer heimtückischen Wolke oder vielleicht einem riesigen Schwarm von schwarzen Ameisen. Der Albtraum bewegte sich vor und zurück, waberte, und wo immer ein Gegner wankte, drängte er mit offensichtlichem Eifer vorwärts. Lange Ranken schossen weit an Zaetars Kameraden vorbei wie als Beweis, dass all ihre Anstrengungen nicht ausreichten, den Albtraum zu besiegen.
Die Verteidiger bekämpften ihn mit einer großen Zahl von unterschiedlichen Zaubern, der einzigen echten Verteidigungsmöglichkeit gegen einen derartigen Gegner. Weil die meisten der magiebegabten Wesen Druiden waren, kämpften sie, wie es bei ihnen üblich war. Riesige Bären standen Seite an Seite neben geschmeidigen Raubkatzen. Jeder Biss, jeder Schlag mit den Klauen wurde von mächtigen Blitzen begleitet. So konnten sie zwar die Finsternis unter Kontrolle halten. Doch Broll wurde das Gefühl nicht los, dass sie den Albtraum nicht wirklich verletzten.
Über ihnen näherte sich eine Sturmkrähe dem Albtraum. Es zeugte von einiger Verzweiflung, dass die Druiden selbst in Traumgestalt in ihre Tierkörper wechseln mussten, um für den Kampf gewappnet zu sein. Der Smaragdgrüne Traum war stets ein Ort gewesen, an dem die Druiden keine Fesseln gekannt hatten. Doch das hatte sich nun geändert.
Andere Druiden behielten ihre eigentliche Gestalt bei. Sie versuchten, den Traum gegen den Albtraum einzusetzen. Unter der Leitung einiger von Brolls Brüdern schoss plötzlich saftig grünes Gras in die Höhe, dessen Halme größer als die Bäume waren. Und als würde ein mächtiger Windhauch wehen, zerschnitten sie die herannahenden Schatten förmlich, die augenblicklich zerfielen.
Dann ertönte der Schrei eines Vogels. Die Sturmkrähe in Traumgestalt hatte sich so sehr auf den Kampf konzentriert, dass ihr einige Ranken, die sie selbst vom Albtraum abgetrennt hatte, entgangen waren. Jetzt hatten ein paar dieser losen Enden ihre Flügel gefesselt.
Als die Krähe auf die düstere Masse des Albtraums zustürzte, regte sich Zaetars Geist, um ihr zu helfen. Mit der Kraft seiner Gedanken näherte er sich dem angeschlagenen Druiden.
Doch noch bevor Zaetar etwas ausrichten konnte, schoss etwas Düsteres, das dem Kopf eines gewaltigen Drachen glich, aus dem Albtraum heraus und verschlang die Sturmkrähe in einem Stück. Mit Schrecken sahen die Verteidiger, wie der Vogel durch die „Kehle“ des dunstigen Feinds hindurchglitt. Verzweifelt versuchte der Druide, wieder seine normale Gestalt anzunehmen. Doch weil er noch in seiner Traumgestalt war, konnte er das monströse Gefängnis nicht durchbrechen.
Der Kopf verschwand wieder im Albtraum.
Die Druiden und ihre Verbündeten setzten die normalen Angriffe fort. Doch Broll konnte spüren, wie die Moral seiner Gefährten sank. Dies war wohl nicht der erste Verlust dieser Art und würde sicherlich auch nicht der letzte gewesen sein.
Einst waren wir mehr als doppelt so viele, sagte der Geist traurig zu ihm. Zaetar ballte die Hände zu Fäusten. Doch auf die eine oder andere Art wurden sie uns genommen... und jetzt sind sie alle korrumpiert und dienen ihm...