„Lethon...“, murmelte der Nachtelf. Der Schatten hatte ihn an den verderbten grünen Drachen erinnert.
Es gibt selbst Schlimmeres als Drachen. Doch Lethon und Smariss haben dem Albtraum stets gut gedient.
Broll hatte genug gesehen... oder zu viel. „Ich muss Tyrande finden. Sie wollte Malfurion suchen! Hier läuft ein Orc herum, und der hat eine Waffe dabei, die Malfurion töten könnte...“
Ich habe den anderen bereits Bescheid gegeben, dass sie nach ihr Ausschau halten sollen, antwortete der flackernde Zaetar. Offensichtlich konnte er Brolls Gedanken lesen. Keiner von ihnen hat etwas gesehen.
„Sie wollte etwas untersuchen, das sie für eine Burg hielt.“
So etwas gibt es hier nicht.
„Ich habe sie selbst gesehen! Ich folgte ihr...“ Broll blickte zu Arei, doch das Urtum schüttelte das gewaltige Haupt. „Wir haben sie gesehen...“
Der Nebel legte sich erneut um sie. Einer nach dem anderen verschwanden die fernen Verteidiger aus der Sicht des besorgten Nachtelfen. Irgendwo dort draußen waren sein Shan’do und die Hohepriesterin.
Und ein mörderischer Orc.
Zaetar wirkte verstört. Ich weiß, was du vorhast... es ist närrisch! Du spielst nur dem Albtraum in die Hände.
„Wenn das geschehen soll, geschieht es sowieso auf die eine oder andere Weise“, erwiderte Broll zischend. Er dachte angestrengt nach. „Wo wirkt der Albtraum am schlimmsten?“
Resigniert wies der Geist weit nach links. Der Nebel wurde gerade so licht, dass Broll Hügel in der smaragdgrünen Finsternis erkennen konnte. Das ist nur ein Hauch dessen, was sich drinnen befindet. Bleib hier und kämpfe mit uns, Broll Bärenfell...
Als Antwort nahm der Druide seine Raubkatzengestalt an und rannte auf das Ziel zu. Arei wollte ihm folgen, doch Zaetar schüttelte den Kopf. Lass ihn seine Suche beenden. Vielleicht hat er ja Erfolg und befreit Malfurion Sturmgrimm.
„Ist das möglich?“, fragte das Urtum.
Der Geist wandte sich wieder dem Kampf zu. Obwohl er weit von der Front entfernt war, griff er mit seinen Kräften doch das stetig wachsende Böse an. Nein... aber genauso, wie wir bereits zum Versagen verdammt sind und dennoch kämpfen... so werden auch Broll Bärenfell und Malfurion Sturmgrimms Freundin weiter nach ihm suchen. Selbst wenn der Albtraum sie am Ende alle verzehren wird...
Sie war fast am Ziel. Thura konnte ihre Beute regelrecht wittern – zumindest glaubte sie das. Der Druide versteckte sich irgendwo in dieser schattenhaften Burg.
Die Orcfrau kannte das neblige Land nicht. Doch das Unbehagen, das sie beim Durchqueren dieser Gegend verspürte, war nichts, verglichen mit dem Drang, dem feigen Mörder endlich nahe zu kommen. Schon bald, sehr bald, würde sie ihre Familie rächen.
Etwas bewegte sich im Nebel. Thura wusste schon seit einiger Zeit, dass sich auch noch andere in ihrer Nähe befanden. Es waren keine Tiere, und sie ähnelten auch keinem Feind, den sie kannte. Wahrscheinlich dienten diese Wesen Malfurion Sturmgrimm. Natürlich ließ er sich von anderen beschützen.
Sie umfasste die Axt. Seit sie den Smaragdgrünen Traum betreten hatte, hatte die Axt einen goldenen Schimmer angenommen. Thura wertete das als ein weiteres Zeichen für die mystischen Eigenschaften der Waffe.
Etwas bewegte sich vom linken Rand ihres Gesichtsfeldes auf sie zu.
Die Orcfrau schlug zu. Die Axt traf auf keinen Widerstand, aber Thura hörte ein Zischen, gefolgt von einem Heulen. Sie erblickte ein Wesen, das sich auf zwei Hufen bewegte und augenblicklich verging, als bestünde es in Wahrheit nur aus Schatten.
Doch als die Axt durch die Gestalt hindurch schnitt, erschien eine weitere von der anderen Seite. Die Orcfrau wirbelte herum. Die Axt fühlte sich gut an in ihrer Hand, als sie auf eine weitere der schattenhaften Gestalten traf.
Wieder ertönte das Zischen, gefolgt von Geheul.
Der gefallene Gegner hinterließ ebenso wenig wie seine Vorgänger irgendwelche Spuren. Die anderen Schatten im Nebel hatten sich in größere Entfernung zurückgezogen, ein Zeichen dafür, dass sie Thura und die Axt wahrlich fürchteten.
Thura lachte höhnisch in die Finsternis hinein und wandte sich wieder ihrem ursprünglichen Weg zu.
Die Burg war nicht mehr da.
Thura fluchte, schaute noch einmal hin. Die Burg war tatsächlich nicht mehr da, doch etwas anderes war an ihre Stelle getreten.
Ein Baum.
Orcs waren an ein Leben in unwirtlichen Gebieten gewöhnt. Deshalb störte sie der verwachsene, fast schon aberwitzig verdrehte Baum nur wenig – zumal er irgendwie an einen düsteren Ort wie diesen passte.
Doch die Burg war ihr Ziel gewesen, kein wie auch immer geformter Baum. Frustriert wollte sich die Orcfrau abwenden. Die Feste musste woanders liegen.
Kurz bevor sie den Baum aus den Augen verlor, bemerkte die Orcfrau eine Veränderung. Thura konzentrierte sich augenblicklich darauf.
Der Baum hatte sich in die düstere Silhouette einer großen vermummten Gestalt verwandelt.
Fast so schnell wie Thura die Gestalt wahrgenommen hatte, legte sich der Nebel darüber. Was von der Silhouette blieb, erinnerte erneut an einen Baum, der aussah, als hätte man ihm Gewalt angetan – als wäre er von unbekannten Kräften wider die Natur zu dem geformt worden, was er nun darstellte.
Doch der zielstrebigen Orcfrau reichte der flüchtige Anblick einer Gestalt, um sie darauf zustürmen zu lassen. Sie erkannte den Umriss sofort, den sie schon so oft in ihren Träumen gesehen hatte. Eine große Gestalt, wie ein Nachtelf gebaut und auf dem Kopf ein Geweih tragend.
Sie hielt Brox’ Axt fest umklammert und verzog das Gesicht zu einem grimmigen Lächeln.
Endlich hatte sie Malfurion Sturmgrimm gefunden.
16
Der Schatten breitet sich aus
Tyrande spürte, wie eine Hand sanft ihre Wange berührte. Sie blickte sich um und erkannte, dass jemand neben ihr kniete.
Es war Malfurion, der sie anlächelte. Er sah genauso aus wie bei ihrem letzten Treffen. Groß, breitschultrig für einen Nachtelf, doch nicht ganz so kräftig gebaut wie ein erfahrener Krieger, so wie Broll Bärenfell beispielsweise. Seine Augen und das Gesicht zeugten von Jahrhunderten voller Anstrengungen, die er im Dienste der Druiden und ganz Azeroths unternommen hatte. Sein Geweih war lang und stolz, ein Symbol für seine Nähe zur Natur und zu der Welt, die er liebte.
Mit Herzklopfen erhob sich die Hohepriesterin und umarmte den Druiden innig.
„Mal...“, flüsterte Tyrande, dabei klang sie für einen Augenblick um Jahrtausende jünger, als sie tatsächlich war. „Oh, Mal... ich habe Euch endlich gefunden! Gepriesen sei Elune!“
„Ich habe Euch so sehr vermisst“, antwortete er und hielt sie ebenfalls fest. Plötzlich verlor sein Tonfall an Freude. „Aber Ihr solltet nicht hier sein. Ihr solltet gehen. Ich hatte nicht erwartet, dass Ihr mich als Erste finden würdet...“
„Ich soll gehen?“ Die Hohepriesterin stand auf und blickte ihn ungläubig an. „Ich werde Euch jetzt nicht verlassen!“
Der Druide schaute sich um, als würde ihn etwas beunruhigen. Tyrande spürte seinen Blick, sah aber nur die unberührte, mitreißende Landschaft des Smaragdgrünen Traums. Sie war genau so, wie Malfurion sie immer beschrieben hatte...
Tyrandes Herz pochte. „Etwas ist nicht richtig... irgendetwas stimmt nicht mit uns...“
„Das ist nur ein Bild in Eurem Kopf, antwortete der Erzdruide mit wachsender Vorsicht. „Ich wollte, dass Ihr mich seht und wisst, dass ich es bin.“
„Malfurion...“
„Hört mir zu! Alles läuft genau so, wie es soll. Doch Ihr müsst umkehren. Ihr könnt nur hier sein, weil er es geahnt hat! Ich hätte wissen müssen, dass er so etwas plant. Ich sollte nicht mal mit Euch reden, denn ich befürchte, dass er uns hier aufspürt und die ganze Wahrheit erkennt.“
„Wer? Von wem sprecht Ihr?“
Malfurion verzog das Gesicht. „Wenn der Albtraumlord etwas mit Euch vorhat, dann müsst Ihr so schnell wie möglich fort von hier! Er ist der Grund, warum Ihr überhaupt so weit gekommen seid...“