„Ich bin auf der Suche nach Euch beinahe gestorben!“, antwortete die Hohepriesterin aufgebracht. „Niemand hat mich an der Nase herumgeführt...“
„Er liebt es, Spielchen zu treiben, quält auch diejenigen, die er braucht! Er...“ Der Druide wandte sich plötzlich von ihr ab. Er blickte zu etwas, das Tyrande nicht erkennen konnte und drängte dann: „Wacht auf und geht zurück, Tyrande! Alles ist dann so, wie es sein soll! Wenn Ihr fort seid, wird sein Plan scheitern und meiner gelingen!“
„Welcher Plan? Was...“
Malfurion wandte sich ihr wieder zu und murmelte: „Ich kann ihn spüren! Er weiß viel, doch nicht genug. Ich wage es nicht, mehr zu sagen, selbst Euch nicht, denn Eure Gedanken stehen ihm offen. Nun geht! Das ist Eure einzige Chance!“
Und damit brach er den Kontakt ab. Tyrande kämpfte dagegen an, wollte die Verbindung aufrechterhalten, erfolglos.
Doch sie spürte, dass er noch in der Nähe war. Ein Gefühl, das sie nicht abschütteln konnte.
Tyrande sah sich um. Der verderbte Nebel war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt. An seinem Rand krabbelte das schwarze Ungeziefer, bestrebt, wieder dorthin zurückzukehren, wo Tyrande stand.
Die Hohepriesterin wollte es schon ignorieren, doch aus irgendeinem Grund blickte sie nach unten...
Wenige Zentimeter von ihr entfernt befand sich eine kleine, nach oben gedrehte Wurzel. Sie war wie Tausende andere Wurzeln in der Nähe... und doch auch wieder nicht. Etwas nicht Sichtbares erregte Tyrandes Aufmerksamkeit. Sie spürte den Drang, die Wurzel zu berühren.
Aber als sie es gerade tun wollte, spürte Tyrande, wie Elune sie erfüllte. Die Hohepriesterin versteifte sich, als Mutter Mond ihr Verständnis einhauchte.
Die Wurzel... war irgendwie an Malfurion gebunden.
Seine Worte fielen ihr wieder ein. Sein Flehen, sie möge ihn zurücklassen. Doch trotz des Ernstes in seiner Stimme war die Hohepriesterin nicht bereit, aufzugeben. Wenn Malfurion einen Fehler hatte, dann den, dass er glaubte, nur er allein könne die Last der Welt schultern und nur er allein dürfe das auch riskieren. Wahrscheinlich hatte sein Verhalten damit zu tun, dass er im Krieg der Ahnen miterleben musste, wie so viele Leben brutal vernichtet worden waren. Leben, von denen er vermutlich annahm, dass er sie hätte retten können.
Sie hatte die Gleve nicht mehr, doch das war egal. Die Nachtelfe machte sich auf den Weg.
Die Burg war nirgendwo zu erkennen. Die Hohepriesterin sah nur den verderbten Nebel und die kaum sichtbaren Umrisse, die knapp hinter seiner Grenze lauerten.
Sie dachte kurz über Malfurions Warnung nach. Werde ich geführt? Hat er recht?
Doch selbst wenn das stimmen mochte, schenkte ihr schon das bloße Wissen, sich dessen bewusst zu sein, einen Vorteil. Malfurion hatte einiges riskiert und alle Vorsicht fahren lassen, um sie zu warnen. Dabei hatte er darauf geachtet, dass sein Entführer – dieser Albtraumlord – es nicht bemerkte.
Tyrande schüttelte schließlich ihre Besorgnis ab. Alles, was zählte, war, dass sie Malfurion fand.
Die Landschaft änderte sich nicht. Das Licht, das Tyrande beschworen hatte, hielt das Ungeziefer auf Abstand, und auch, was sie sonst noch belauern mochte, wurde dadurch ferngehalten. Zufrieden suchte die Hohepriesterin weiterhin nach Spuren ihres Geliebten. Er war in der Nähe, die Wurzel bewies es.
Sie musste über seine Durchtriebenheit lächeln. Selbst in Gefangenschaft war es ihm in der Traumgestalt geglückt, eine Pflanze für seine Zwecke einzuspannen – einen Baum.
Die Wurzel! Tyrande untersuchte den Winkel, in dem sie wuchs. Daraus leitete sie die Richtung ab.
Nachdem sie sich versichert hatte, dass sie richtig lag, blickte die Hohepriesterin in den Nebel. Und in dem abscheulichen Dunst erspähte sie einen Baum. Obwohl es auch jeder andere der zehntausend Bäume hätte sein können, wusste Tyrande doch, dass sie den richtigen gefunden hatte. Den Baum, der sie zu Malfurion führen würde.
Es war kaum mehr als ein weiterer Schatten, aber was für einer. Er ragte immer höher über ihr auf, obwohl er noch ein gutes Stück entfernt war. Er hatte keine Blätter, die sie erkennen konnte, nur tückisch wirkende Äste, die an eine riesige Knochenhand erinnerten.
Der Schatten waberte. Tyrande konnte den Baum selbst nicht mehr erkennen, doch er musste irgendwo in der Nähe stehen. Trotz seines schrecklichen Aussehens wurde die Nachtelfe von seiner bloßen Existenz ermutigt. Es musste der Ausgangspunkt jener Wurzel sein, die Malfurion benutzt hatte.
Etwas bewegte sich von rechts auf sie zu.
Tyrande wirbelte herum.
Ein kräftiger Schlag traf sie, dann krachte ein muskulöser Körper mit solcher Wucht in die Nachtelfe, dass Tyrande weit zurückgeschleudert wurde. Sie landete rücklings auf dem Ungeziefer und zerquetschte mehrere der kleinen Krabbler. Der Rest stob auseinander, als sich das Licht von Mutter Mond ausbreitete.
Die Hohepriesterin erhob sich – aber nur, um zu erkennen, dass die tödliche Klinge einer Axt gegen ihre Kehle gepresst wurde. Eine Axt, die sie noch nach mehr als zehntausend Jahren erkannte.
„Nachtelfe!“, knurrte das Orcweib, das das Geschenk in Händen hielt, das Brox von Cenarius erhalten hatte. „Du bist seine Gefährtin...“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Dass die Orcfrau sie nicht augenblicklich getötet hatte, obwohl sie wusste, dass sie Malfurions Partnerin war, ermutigte Tyrande in gleichem Maße, wie es sie verwirrte. Gab es eine Chance, der anderen Frau ins Gewissen zu reden?
„Ich heiße Tyrande...“
Die Axt kam näher. „Namen interessieren mich nicht! Du kennst ihn! Er kennt dich! Er wird zu dir kommen...“
„Malfurion ist nicht Euer Feind...“
„Er ist unser aller Feind! Er wird Azeroth vernichten!“ Die Augen der Orcfrau sprühten vor Hass auf den Druiden. „Und das Blut meiner Familie klebt an seinen Händen. Broxigar wird gerächt werden. Ich, Thura, werde mir den Kopf dieses Feiglings holen – und vielleicht auch deinen!“
Trotz der Gefahr konnte die Hohepriesterin diese Anschuldigung nicht hinnehmen. „Malfurion ist keine Gefahr für Azeroth. Er ist sein Beschützer.“ Tyrandes Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Und Brox war unser Freund! Er starb, als er uns rettete. Wir ehren sein Andenken.“
Ihre Entführerin knurrte wild. Doch plötzlich zog sie die Axt zurück.
Der Gesichtsausdruck der Orcfrau war undeutbar. Offensichtlich war nur, dass Thura nicht viel geschlafen hatte – und dieser Mangel an Erholung nun seinen Tribut forderte.
Möglicherweise, dachte Tyrande, erkannte Thura auch, dass sie zu ihrer Blutrache verleitet worden war.
Aber wieder richtete die Orcfrau ihre Axt gegen Tyrande. „Aufstehen!“
Die Nachtelfe gehorchte. Stehend hatte sie größere Chancen gegen Thura. Doch Tyrande hatte nicht nur Respekt vor den Fähigkeiten der Kriegerin, sondern betrachtete die Orcfrau auch als Wesen, das sich unschuldig in den Machenschaften des Albtraumlords verstrickt hatte.
„Ich dachte, ich hätte ihn“, murmelte Thura, sie sprach halb zu sich selbst. „Habe ihn gesehen und kam nah an den Ort heran, wo er sein sollte... doch er war nicht da...“ Sie blickte Tyrande an. „Druidentricks! Die Tricks deines Gefährten!“ Die muskulöse Orcfrau schwenkte die Axt. „Du bringst mich zu ihm!“
Tyrande blieb stehen. „Um Malfurion zu töten? Nein.“
„Dann töte ich dich!“
„Hätte Brox das getan?“, konterte die Hohepriesterin. „Hätte er jemanden getötet, weil der sich weigert, gegen ihn zu kämpfen?“
Thura blickte sie an, dann wiederholte sie ihre Forderung. „Bring mich zu ihm! Sofort!“
„Das werde ich nicht...“
Sie unterbrach sich, als die Orcfrau plötzlich zur Seite blickte. Tyrande hörte nichts, doch sie vertraute den Instinkten der erfahrenen Jägerin.
Die Orcfrau knurrte erneut. Thura blickte sich um, dann grinste sie, als sie etwas sah. „Der Baum! Der Baum ist wieder erschienen!“