Dem Blick der Orcfrau folgend sah Tyrande, dass der große Schatten zurückgekehrt war. Den Baum selbst konnte sie immer noch nicht erkennen. Doch sie wusste, dass er sich in der Nähe befinden musste.
„Er wird dort sein“, murmelte Thura fröhlich zu sich selbst. „Die Vision verheißt es so...“
Die Hohepriesterin konnte auf keine weiteren Gelegenheiten mehr warten. Als Thuras Aufmerksamkeit abgelenkt war, griff sie an.
Tyrande durfte sich nicht auf Elunes Magie verlassen. Denn das Licht hätte ihre Gegnerin zu früh gewarnt. Sie musste ihre eigenen Nahkampfkünste einsetzen.
Ihre ausgestreckten Finger schossen auf den verwundbaren Hals der Orcfrau zu.
Thura wirbelte zurück. Das stumpfe Ende des Axtstiels sauste schneller auf die Schläfe der Hohepriesterin zu, als Tyrande ausweichen konnte. Sie hatte nur einen Augenblick, um zu erkennen, dass sie ausmanövriert worden war. Dann traf der Stiel sie auch schon.
Doch die über Jahrhunderte im Kampf geschulten Reflexe der Nachtelfe sorgten dafür, dass der Stiel sie nur streifte. Als Thura erneut mit der Axt ausholte, duckte sich Tyrande unter dem Schlag weg und trat zu.
Ihr meisterhaft ausgeführter Tritt traf die Orcfrau unterhalb des Knies. Thura knickte ein und fiel zur Seite. Sie ließ die Waffe fallen. Die Hohepriesterin griff danach.
Tyrande..., rief eine Stimme in ihrem Kopf.
„Malfurion?“ Sie war sich nicht sicher, doch er schien es tatsächlich zu sein. „Malfurion...“
Derart abgelenkt entging ihr Thuras nächster Angriff. Die schwere Faust der Orcfrau traf sie an der Kehle.
Keuchend stürzte sie zu Boden. Verzweifelt nach Luft schnappend wurde Tyrande bewusst, dass Thura sie nun töten würde... und alles nur wegen dieser Stimme.
Die Hohepriesterin kämpfte, rechtzeitig wieder zu Atem zu kommen.
Der todbringende Treffer ließ weiter auf sich warten.
Als Tyrande wieder durchatmen konnte, blickte sie auf.
Thura war fort.
Tyrande kämpfte sich auf die Beine. Sie sah den großen Schatten und wusste, wo die Orcfrau hin war. Es erstaunte sie immer noch, dass Thura nicht versucht hatte, sie zu töten. Die Nachtelfe nahm die Verfolgung auf.
Doch wo der Nebel in der Vergangenheit so bereitwillig dem Licht von Mutter Mond gewichen war, war jetzt sein Ziel, die Nachtelfe aufzuhalten. Tyrande konzentrierte sich und versuchte, sich zu beruhigen. Dabei wurde das silberne Licht stärker, und der Nebel zog sich ein wenig zurück.
Tyrande wusste, dass sie damit zufrieden sein musste und stürmte vorwärts. Sie konzentrierte sich auf den großen Schatten. Er ragte immer höher auf, dennoch konnte sie den Baum, der ihn warf, nicht erkennen.
Aber sie entdeckte etwas anderes. Einen weiteren kleineren Baum. Tyrande verlangsamte bei dem Anblick ihre Schritte. Als Nachtelfe war sie angesichts der verdrehten Gestalt bis ins Mark erschüttert. Sie fühlte sich ob seiner erlittenen Folter gleichzeitig abgestoßen und traurig.
Von Thura gab es kein Zeichen. Tyrande befürchtete, dass sie dem falschen Pfad gefolgt war. Doch als sie sich nach links wandte, lenkte Irgendetwas ihren Blick erneut auf den schrecklichen Baum. Doch der zerstörte sie nicht so sehr wie der Schatten, der darüber aufragte. Der Schatten, der immer noch nicht seinen Ursprung preisgab.
Jemand flüsterte. Tyrande drehte sich um und versuchte herauszubekommen, woher das Geräusch stammte. Dann hörte sie ein zweites aus der entgegengesetzten Richtung. Ein drittes erreichte ihr Ohr, noch bevor die Nachtelfe sich umdrehen konnte.
Der Nebel war plötzlich mit Flüstern erfüllt. Doch es war nicht irgendein Flüstern. Obwohl Tyrande nicht verstehen konnte, was die Stimmen sagten, schienen sie doch zu flehen. Sie brauchten Hilfe. Sie bettelten um Hilfe.
Und trotz der düsteren Falschheit des Nebels wusste die Hohepriesterin, dass das Flehen echt war.
Von Mitleid getrieben wandte sich Tyrande wieder dem gefolterten Baum zu. Sie streckte ihre Hand zu einem der düsteren Schemen aus. Zum ersten Mal kam eins der Wesen auf sie zu, statt zu fliehen.
Etwas zog sie plötzlich am Bein. Sie glaubte, in eine Falle gelaufen zu sein und erhöhte deshalb augenblicklich die Helligkeit ihres Zaubers. Dann bildete sie einen Speer aus reinem Licht. Dieser Zauber war anstrengend, doch ohne die Waffe würde sie keine Chance haben.
Sie führte den Speer gegen den Gegner, der sie am Fuß festhielt. Das Licht durchdrang ihn, als bestünde es aus echtem Stahl.
Was sie zuerst für einen Tentakel gehalten hatte, ließ augenblicklich los. Von ihrem leuchtenden Speer festgehalten wand es sich vor Schmerzen.
Erst da erkannte Tyrande, dass es kein Tentakel war, sondern eine Wurzel.
Als ihr das klar wurde, traf sie das Ausmaß ihrer Tat mit voller Wucht. Die Hohepriesterin ließ augenblicklich den Speer aus Licht verschwinden. Dann kniete sie sich hin, um die Wurzel zu heilen. Sie war keine Druidin, aber sie glaubte fest daran, dass Elune den kleinen Schaden, den ihre Hohepriesterin versehentlich verursacht hatte, beheben würde.
Als sie die Wurzel erneut berührte, spürte Tyrande abermals Malfurions Gegenwart. Sie war so stark, dass die Nachtelfe fast glaubte, er sei tatsächlich dort.
Ihre Augen weiteten sich.
Sie blickte den gepeinigten Baum an und erbleichte. „Malfurion...“
Das Flüstern drohte, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Zumindest hatte Broll diesen Eindruck, als er in der Gestalt einer Raubkatze durch das feuchte Land hetzte. Dummerweise funktionierte sein Gehör in Katzengestalt auch noch besser, was das Flüstern nur verstärkte.
Dafür war ihm sein verbesserter Geruchssinn von Nutzen. Er hatte Tyrande gewittert, und es war keine vom Albtraumlord geschaffene Illusion. Er war ihr tatsächlich nah.
Seine Pranken waren mit einem widerwärtigen Schlamm überzogen, der aus den Innereien des Ungeziefers bestand. Doch selbst das säureartige Brennen konnte den Druiden nicht aufhalten. Mit jedem Schritt zertrat er mehr der widerlichen Kreaturen. Broll tat es nur leid, dass sich hinter ihm gleich wieder neue Insekten aus den zerquetschten Überresten der alten bildeten.
Der Nebel drohte immer noch, ihn zu verschlingen. Aber mit einem beiläufigen Prankenhieb und etwas magischem violetten Feuer hielt sich die Katze sowohl den Nebel als auch alles, was darin lauerte, auf sicherer Distanz.
Plötzlich erschütterte ein starkes Beben Broll und seine Umgebung. Trotz seiner blitzschnellen Reflexe wurde die große Katze herumgeschleudert. Mit Mühe landete Broll wieder auf den Beinen, dann grub er die Krallen in den Boden.
Ein großer Schatten schoss von oben herab. Dem ersten folgte ein zweiter, dann kamen noch einer und noch einer.
Und selbst durch den dichten Nebel konnte der Druide erkennen, dass es sich um Drachen handelte. Drachen von smaragdgrüner Farbe.
Yseras Untertanen verteidigten den Traum noch immer. Der Druide zählte mindestens zehn der riesigen Echsen und betete, dass es noch mehr waren.
Doch als sie Broll passierten, löste sich plötzlich einer aus der Gruppe. Er stieß zu dem Druiden herab, der den Drachen als Weibchen identifizierte.
„Was machst du hier allein, Nachtelf... und in deiner sterblichen Gestalt?“
Er kannte den Drachen nicht, was aber nicht überraschend war. Broll verwandelte sich zurück und berichtete kurz
Der Drache keuchte vor Überraschung. „Eranikus ist wieder im Traum unterwegs! Das...“ Die Echse blickte in die Richtung, wohin ihre Artgenossen verschwunden waren, als würde sie etwas hören. Ihre Augen weiteten sich. Sie knurrte, dann sagte sie: „Nachtelf, klettere auf mich! Ich nehme dich mit mir!“
„Meine Freunde...“
„Klettere auf mich! Ich erkläre es dir, wenn wir in der Luft sind!“
Der Drache behauptete mit keinem Wort, dass es in der Luft momentan sicherer sei, und Broll war klar, dass das auch gar nicht stimmte. Denn wenn überall Korrumpierte wie Lethon lauerten und der Albtraum über Fähigkeiten verfügte, die ihm immer noch ein Rätsel waren, war es gut möglich, dass es derzeit am Himmel noch weit unsicherer zuging als am Boden.