Mit einem Schrei der Erleichterung warf Malfurion seine verderbten Fesseln ab. Die schwarzen, dornenbewehrten Blätter vergingen. Die Äste, die seine Arme und Hände gewesen waren, sanken zusammen und entrollten sich. Die Wurzeln zogen sich zurück, wurden zu Füßen, die dann wieder zu zwei Beinen wurden.
Das dunkle verweste Grün verschwand, und das strahlende Smaragdgrün seiner Traumgestalt erschien wieder.
Nein.... erklang die Stimme des Albtraumlords. So einfach geht das nicht...
Die Schatten von mehreren Ästen legten sich über Malfurions Brust.
Obwohl die Zweige wie auch er selbst feinstofflich waren – vielleicht genau deswegen -, fühlte sich der Nachtelf, als würde seine Brust zerquetscht. Die Euphorie seiner Flucht schwand, als er spürte, wie sein Feind erneut in seine Gedanken und seine tiefste Seele eindrang.
„Mal!“, rief Tyrande. Sie und Broll drängten beide auf den Erzdruiden zu. Auch der Mensch folgte.
Thura war sprachlos, so hatte sie sich ihren Angriff nicht vorgestellt. Sie blickte wie jemand, der bitter enttäuscht worden war.
Weitere Schattenäste senkten sich herab und drängten mit Leichtigkeit Malfurions vermeintliche Retter beiseite. Thura erkannte, was die größere Gefahr war und schlug nach einem der Schatten, der die Brust des Erzdruiden umschloss.
Es gab ein Zischen, als das magische Holz den Schatten berührte. Ein einzelner Ast flog weg, als bestünde er aus fester Substanz. Er landete in einiger Entfernung, wo er sich auflöste.
Der Albtraumlord heulte, wodurch Malfurion fast in Ohnmacht fiel.
Der Boden unter Thuras Füßen brach auf. Schattenwurzeln zerrten an ihren Beinen, und die Orcfrau schrie. Eine Hand hatte die Axt schon losgelassen. Die andere drohte ebenfalls den Halt zu verlieren.
Der Albtraum will, dass sie Brox’ Axt verliert! Malfurion mühte sich, um der Orcfrau zu helfen, doch die Schatten pressten seine Brust fester zusammen.
Komm..., hörte er seinen Entführer murmeln. Komm...
Aber der Erzdruide hatte nicht die Absicht, sich der Finsternis zu ergeben. Er strengte sich an und gab alles, um nicht zerquetscht zu werden.
Um sie herum reinigten die grünen Drachen das Land vom Albtraum. Die einzige Ranke, die noch weit hinausreichte, lag um Malfurion und den Schattenbaum. Trotz der drohenden Niederlage wollte der Herr des Albtraums ihn nicht gehen lassen.
Malfurion verstand warum. Der Albtraum brauchte ihn. Er war der Schlüssel zum Wachstum des Albtraums, sowohl im Smaragdgrünen Traum wie auch in Azeroth.
Doch die anderen wussten das auch nur zu gut. Der Schattenbaum wurde plötzlich in reine magische Energie gebadet, die zur gleichen Zeit den Nachtelfen mit Euphorie erfüllte.
Nur ein Wesen konnte eine derartige Macht ausüben. Malfurion kämpfte darum, aufzublicken, und er sah nun, was über ihm schwebte.
„Keine Verunreinigung des Schattens soll in meinem Reich zurückbleiben!“, rief Ysera. Ihre Augen waren geschlossen, aber Malfurion wusste, dass sie mit größter Genauigkeit sah, wo ihr Feind am verwundbarsten war. „Ich werde keines meiner Kinder an den Albtraum verlieren...“
Ysera öffnete die Augen. Der Blick des Aspekts funkelte, und obwohl er auf Malfurion nicht bedrohlich wirkte, spürte er das Unbehagen und die Furcht seines Entführers. Die Schattenäste flohen vor dem Druiden.
Einer der anderen grünen Drachen stieß zu der Gruppe hinab. Yseras Diener nutzte seine Magie, um jeden aufsitzen zu lassen, auch Thura. Es war sogar egal, dass Malfurion nur in seiner Traumgestalt anwesend war. Die Magie des Drachen hob ihn hoch, als bestünde er aus Fleisch und Blut.
Doch als sie in den Himmel hinaufgetragen wurden, erklang ganz in der Nähe in einer anderen Region des Nebels der Schrei eines anderen Drachen. Malfurion erblickte eines der größeren Männchen aus Yseras Sippe.
Eranikus.
Malfurion kannte die bewegte Vergangenheit von Yseras Gefährten gut und hatte schon des Öfteren seine Gegenwart gespürt. Er hatte Eranikus hier nicht erwartet, völlig überrascht war er von seiner Anwesenheit allerdings auch nicht. Der ehemals korrumpierte Drache wollte sich rehabilitieren und war dem Albtraum mit viel Selbstvertrauen entgegengetreten.
Und jetzt hatte der ihn erwischt. Hunderte der schrecklichen Nebelhände hielten ihn fest. Binnen Sekunden waren nur noch sein Kopf, eine Vorderpranke und ein Flügel sichtbar. Er blickte verängstigt zu Ysera.
Der Aspekt reagierte. Ysera wollte ihren Gefährten retten und achtete nur einen Augenblick lang nicht auf den Albtraum...
Und in diesem Augenblick schwoll der Schattenbaum zu unfassbarer Größe an und packte sie.
Die schrecklichen Äste umschlossen Ysera. Bevor sie reagieren konnte, stießen die Zweige sie zurück und schubsten sie in den Nebel hinein.
Im selben Moment stieß Eranikus ein wildes Lachen aus. Er verwandelte sich... in den hinterlistigen Lethon. Dessen widerliche Fratze verspottete die vor Schreck erstarrten Verteidiger einen Moment lang, bevor der korrumpierte Drache die Illusion vollständig auflöste und dem wahren Ziel des Albtraums folgte... Ysera.
Die anderen Drachen machten sich augenblicklich auf, um ihre Herrin zu retten. Doch der Albtraum wehrte sich mit einer derartigen Kraft, die niemand, nicht einmal Malfurion, erwartet hatte. Als bestünde er aus Tausenden Kraken, tasteten sich Ranken aus dem Nebel, die jeden packten, der unvorsichtig genug war, sich zu nähern. Der Albtraum erwischte zwei weitere Mitglieder der grünen Drachensippe, bevor sich die restlichen grünen Drachen zögerlich zurückzogen.
Malfurion brüllte. Er konnte nicht fassen, was geschehen war. Hätte Ysera nicht versucht ihn zu retten, wäre sie auch nicht in Gefangenschaft geraten.
Der Albtraum breitete sich immer weiter aus. Schnell, wie ein reißender Fluss, rauschte er auf seine Gegner zu. Die Ranken peitschten wild auf der Suche nach neuen Opfern.
Sie hatten keine Wahl, sie mussten fliehen.
Der Erzdruide wusste, dass er keine Chance hatte, dennoch ließ er den magischen Schutz des grünen Drachen hinter sich. Er konnte nicht zulassen – würde nicht zulassen -, dass Ysera als Gefangene dieser schrecklichen Macht zurückblieb.
Doch obwohl der Nebel immer weiter vordrang, zerfaserte er an einigen Stellen auch ein wenig. Einige unter den grünen Drachen interpretierten es als Zeichen der Schwäche. Vielleicht hatte sich der Albtraum übernommen, als er die Herrin des Traums gefangen hatte.
Malfurion aber konnte die vordersten der ungestümen Drachen nicht mehr rechtzeitig warnen. Einer der Ersten, der sich in den Nebel stürzte, machte es den Ranken durch seinen Eifer nur leichter, ihn zu packen und hineinzuziehen. Wie die anderen zuvor, wurde er gänzlich verschlungen.
Die restlichen Drachen wurden zurückgetrieben. Zudem spürte Malfurion, dass die an anderen Orten kämpfenden Verbündeten ebenfalls wichen. Es war, als stünden sie einem völlig neuen und weit fähigeren Gegner gegenüber. Drachen, Urtume, Druiden... sie alle mussten sich zurückziehen, wollten sie nicht ebenfalls vom Nebel verschluckt werden.
Hinter ihnen allerdings wurde der Nebel immer dünner. Langsam wurde die zerstörte Landschaft wieder sichtbar, die einst der Smaragdgrüne Traum gewesen war. Ehemals stolze Hügel waren nun mit schwarzen Pockennarben bedeckt, und Ungeziefer krabbelte darüber. Die übrig gebliebenen Bäume hatten die meisten ihrer Blätter verloren und waren von kleinen rötlichen Saugern übersät, die nur aus Mäulern und Zähnen zu bestehen schienen. Die Äste wanden sich die ganze Zeit, als würden sie nach etwas suchen, das so unvorsichtig war, in ihre Reichweite zu gelangen.
Auf dem Boden wimmelte es von Käfern und anderem Krabbelgetier. Dazu tropfte etwas Widerliches wie Eiter aus den schroffen Rissen, die sich nun überall öffneten. Der Geruch nach Verwesung erfüllte die Luft schlimmer denn je.