Und dann offenbarte der Albtraum den anderen, was Malfurion bereits wusste. Der Druide hatte gehofft, dass das Böse nach seiner Flucht zumindest etwas geschwächt sein würde. Doch es war noch viel schrecklicher geworden als alles, was sein Entführer ihm zuvor gezeigt hatte.
Überall, wo der Nebel lag, ballten die Feinde sich zusammen. Ihre Reihen breiteten sich so weit aus, wie das Auge sehen konnte und noch darüber hinaus. Und mit jeder Sekunde wurden es mehr, jedes Gesicht war von Schmerz und Gier gezeichnet.
Es waren die Schläfer, die dem Albtraum unwissentlich zum Opfer gefallen waren. Und es waren viele. Malfurion hatte gegen Dämonen und die untote Geißel gekämpft. Beide wirkten regelrecht harmlos gegen die grausamen Nachahmungen dieser Schläfer. Sie hatten ihre Seelen verloren, und das zeigte sich auch auf ihren Körpern. Wenn sie sich bewegten, geschah das sehr fließend, gleichzeitig war es aber auch offensichtlich mit einem derart starken Schmerz verbunden, dass Malfurions eigene Folter wie nichts dagegen wirkte.
Verschrumpelte Haut umspannte die Schädel. Ihre Münder öffneten sich zu endlosen Schreien und wurden dabei größer, als physisch überhaupt möglich war. Ihre Augen lagen tief in den Schädeln und starrten mit Abscheu auf alles, das nicht ihre Leiden teilte.
Und es wurden immer mehr. Mehr, als auf hundert Welten so groß wie Azeroth gepasst hätten. Sie entstammten jedem schrecklichen Traum, den jeder Schläfer durchlebte, und deshalb waren es wohl auch so endlos viele. Sie streckten die klauenähnlichen Hände aus, während sie immer näher und näher kamen...
Malfurion wusste, was diese Gegner wollten. Sein Entführer war nur zu erpicht darauf gewesen, ihm nicht nur ihre Leiden zu zeigen. Er hatte ihn auch spüren lassen, was er ihnen als Rettung vorgegaukelt hatte.
Ihr einziges Ziel bestand darin, das zu bekommen, und sei es nur für einen winzigen Augenblick, was alle, die dem Albtraum noch nicht zum Opfer gefallen waren, noch besaßen: die Fähigkeit, ohne Schmerz und Angst zu träumen.
Doch es war ein falsches Verlangen. Etwas, das sie niemals erreichen konnten. Er war nur ein Trick, um sie weiterzutreiben. Um sie in eine derartige Verzweiflung zu stürzen, dass sie sich gegen ihre Freunde und Familien wandten. Und das alles nur zum Nutzen des Albtraums.
Und egal, wie gut die meisten dieser Menschen im Leben auch gewesen sein mochten... ihre Ichs aus dem Albtraum würden keine Sekunde zögern, Azeroth zu vernichten.
Es wurden immer mehr, ihre Zahl stieg weiter an. Die verbleibenden Mitglieder von Yseras Drachensippe waren nichts gegen sie. Die Drachen griffen immer wieder an, doch sie hätten genauso gut mit ein paar Sandkörnern versuchen können, eine Flut aufzuhalten.
Malfurion wusste, warum. Er wusste auch, dass er vom Albtraumlord manipuliert worden war. Bei all seiner Gerissenheit hatte er dem Schatten einfach gegeben, was der in Wahrheit begehrt hatte. Der Nachteil hatte seinem Entführer in die Hände gespielt, als wäre er selbst einer der Korrumpierten...
„Wir müssen fort von hier!“, brüllte einer der älteren grünen Drachen. „Wir müssen uns neu formieren!“
Neu formieren? Warum?, fragte sich Malfurion im Stillen, immer noch erschreckt über die Rolle, die er gespielt hatte. Welche Hoffnung gibt es jetzt noch?
Der Albtraum hatte nie Malfurion selbst gewollt. Dessen Gebieter war Malfurions Plan allerdings sehr recht gewesen.
Malfurion war nur der Köder gewesen. Seine Kräfte, seine Bindung an Azeroth und den Smaragdgrünen Traum waren stark genug, um den Absichten des Albtraums dienlich zu sein. Aber das hatte nicht ausgereicht, sie wirklich zu erfüllen. Der Schatten hatte das Wesen gebraucht, das am engsten mit diesem magischen Reich verbunden war.
Von Anfang an hatte der Albtraum nur die Herrin des Smaragdgrünen Traums gewollt.
18
Verlorene Träume
In Sturmwind, Eisenschmiede, Dalaran, Orgrimmar, Donnerfels und allen anderen Städten und Dörfern begann sich der Nebel zu regen. Selbst in Unterstadt, wo die Untoten lebten, die nicht träumen sollten, beeinflusste er die geheimen Albträume seiner Bewohner. Die Verlassenen waren dazu verdammt, ihre verlorenen Leben noch einmal zu durchleiden. In diesen Träumen wurde ihnen eine Fluchtmöglichkeit in Aussicht gestellt, die aber nie eingelöst wurde.
Unterstadt trug ihren Namen aus vielerlei Gründen zu Recht. So lag sie tatsächlich unter den Ruinen einer der größten Städte von ganz Azeroth: Lordaeron. Doch im Dritten Krieg hatte Prinz Arthas -damals bereits vom Lichkönig korrumpiert – die Hauptstadt seines Vaters erobert und Terenas in seinem eigenen Thronsaal getötet. Der verrückte Prinz glaubte, mit diesem Gemetzel ein neues Lordaeron erschaffen zu können und hatte damit begonnen, die riesigen unterirdischen Katakomben auszubauen.
Doch sein furchtbares Schicksal hatte Arthas ins kalte Nordend gezogen, und während dieser Zeit hatten die Verlassenen – die Untoten, die sich aus der Sklaverei des Lichkönigs befreien konnten – die Ruinen erobert. Sie hatten erkannt, wie gut sich die Ruinen verteidigen ließen und erschufen in den Tiefen ihre eigene Hauptstadt. Sie erweiterten die Katakomben und errichteten Gebäude, die auf die Lebenden wie eine schreckliche Verhöhnung ihrer verlorenen Existenzen wirkten.
Ihr Wahrzeichen, eine düstere Krone, die aus drei überkreuzten Pfeilen bestand – einer davon zerbrochen -, bedeckt von einer weißen, zerbrochenen Maske, war in der Stadt allgegenwärtig. Doch es war nicht nur das Wahrzeichen der Verlassenen, sondern auch das ihrer Königin. Unterstadt war ein Ort der düsteren Farben, steinernen Wege und Stufen. Die Untoten schliefen nicht und genauso wenig tat dies die Stadt. Es gab Tavernen, Schmieden und Läden, die nicht nur den Bedürfnissen der Untoten, sondern auch Besuchern der Horde dienten, mit denen sich die Verlassenen verbündet hatten.
Es gab ein wenig Licht in Form schwacher Lampen und trüb flackernder Fackeln. Sie waren weniger für die Lebenden gedacht, obwohl die Untoten im Grunde keine echte Verwendung für das Licht hatten. Doch niemand wollte sich eingestehen, dass es seinen Bewohnern zumindest den Anstrich einer lebendigen Existenz verlieh.
Aber nun... war etwas Neues und Beunruhigendes in die Hauptstadt der Verlassenen eingekehrt, etwas, das selbst die Erbauer von Unterstadt beunruhigte, weil es... dem Schlaf glich...
Die Anführerin der Verlassenen – eine furchterregende Banshee namens Sylvanas Windläufer – hatte den merkwürdigen neuen Zustand ihrer Anhänger untersucht, die nun wahrlich tot wirkten – und doch auch wieder nicht. Denn die Befallenen regten sich gelegentlich.
Die Bansheekönigin war auch als Untote noch eine Schönheit. Einst war sie eine Hochelfe gewesen, die Waldläufergeneralin des untergegangenen Elfenreichs Silbermond. Und in ihrer gegenwärtigen Rolle war Sylvanas ebenfalls einzigartig. Denn anders als die anderen Banshees war sie kein Geist, sondern hatte einen Körper aus Fleisch und Blut. Schlank, elegant und mit einer Haut, weiß wie Elfenbein, bewegte sie sich anmutig zwischen den am Boden liegenden Gestalten, die ihre Diener hier deponiert hatten.
Es war bei allen dasselbe. Keiner gab Antwort, was Sylvanas dermaßen frustrierte, dass sie sich fast wieder lebendig fühlte.
Sie trug eine hautenge Lederrüstung, in der sie sich geschmeidig bewegen konnte. In ihrem mantelähnlichen Kapuzenumhang mit einem Hauch von tiefem Purpur darin wirkte Sylvanas wie der personifizierte Sendbote des Untergangs. Selbst die vier untoten Hochelfenwachen mit ihren verrotteten Gesichtern, den vorstehenden Rippen und den hohlen Augen konnten nicht so viel Furcht erzeugen wie die Banshee.
„Nun, Varimathras“, sagte sie zu einer schattenhaften Gestalt, die in der Ecke der feuchten, mit Spinnenweben überzogenen Kammer stand, die unterhalb ihrer Zitadelle lag. Ihre Stimme klang auf eine Art verführerisch, wie die Dunkelheit auf manche Wesen wirkte. Gleichzeitig war sie aber auch eisig wie ein schneidender Wind. „Hast du mir nichts zu berichten?“