Arthas wollte sie abermals zur Banshee machen...
Sylvanas erinnerte sich noch daran, welche Schmerzen sie bei der letzten schrecklichen Verwandlung erlitten hatte. Sie ahnte, dass sie diesmal einen Schrecken durchleben musste, der tausend Mal stärker war.
„Nein!“, schrie sie und versuchte, ihre Kräfte einzusetzen. Unglücklicherweise gehörten ihr diese Kräfte nicht mehr, solange dieser monströse Zauber noch wirkte.
Arthas hob sein langes, glattes Schwert, Frostgram. Das Böse darin stand dem Lichkönig in nichts nach. Er richtete die Spitze auf Sylvanas, und die Waffe füllte ihren panischen Blick aus.
„Ja, fortan wirst du eine wirklich gehorsame Dienerin sein, meine teure Sylvanas... selbst wenn wir dich immer wieder aufs Neue beleben müssen, damit es diesmal auch wirklich richtig funktioniert...“
Sylvanas schrie.
„Sie wird nicht aufwachen“, murmelte Sharlindra und spürte in sich ein Gefühl der Furcht, wie sie es seit ihrem eigenen Tod nicht mehr erlebt hatte. Sie beobachtete die anderen Verlassenen um sich herum und erkannte, dass sie dasselbe fühlten. Sylvanas redete über Varimathras, den Verräter, den sie selbst getötet hatte. Und über den Lichkönig, der lange besiegt war! Was für eine Art Traum durchlebte sie nur? Und warum träumte sie überhaupt?
Beinahe die Hälfte von Sylvanas’ Untertanen waren in demselben Zustand wie ihre Königin. Mit Ausnahme einiger weniger erging es den anderen Völkern der Horde ähnlich, obwohl es in deren Fall nachvollziehbarer war.
Aber noch schlimmer war... dass die Verlassenen angegriffen wurden.
Angegriffen von den Schatten ihrer eigenen Angehörigen, die zu etwas noch Abscheulicherem geworden waren als es selbst die Bewohner von Unterstadt darstellten. Die Verlassenen wussten, dass diese Wesen nicht real waren, doch sie waren auch keine Illusionen. Den Untoten machten diese Kreaturen, die irgendwo zwischen Leben und Tod standen, mehr zu schaffen, als es zuvor ihr eigener Tod getan hatte. Sie verwüsteten Unterstadt auf eine Art, die die Verlassenen daran erinnerte, wie es gewesen sein musste, als die Untoten selbst als Teil der Geißel dieses einst lebendige Königreich überrannt hatten.
Ein Schrei erschütterte Sharlindra erneut. Er kam nicht von Sylvanas, sondern war über ihr erklungen. Sie wusste, dass es der Schrei einer Banshee gewesen war. Aber es war weder eine Warnung gewesen noch ein Kampfschrei.
Es war ein Schrei der Furcht... die Furcht der Untoten.
Sharlindra blickte alle an, die sich mit ihr hier versammelt hatten. So furchterregend sie auf Außenstehende auch wirken mochten, verströmten die Verlassenen nun ein Gefühl, das unüblich für sie war. Die Untoten, die sie anblickte, wirkten unsicher, wie aus dem Gleichgewicht gebracht.
Weitere Schreie ertönten von den oberen Etagen von Unterstadt. Die Banshee blickte zu ihrer Königin, doch es gab keine Hoffnung auf Führung durch Sylvanas.
„Der Nebel...“, warnte eine raue Stimme. Der Sprecher hatte kaum noch Fleisch am Körper und konnte nur dank seiner Magie überhaupt sprechen, weil sein Mund schlaff zur Seite hing. „Der Nebel...“, wiederholte er.
Sharlindra blickte zu den Stufen, die zu ihnen führten. Der düstere grüne Nebel glitt dort hinunter, als würde ein lebendes Wesen langsam seine Beute umstreichen.
Die Verlassenen wichen zurück. Gleichzeitig begannen sich im Nebel Gestalten zu bilden.
Die Banshee trat ebenfalls zurück. Sie kannte einige dieser Gestalten. Anhand der Reaktionen der anderen merkte sie, dass auch sie ihre Verwandten und Freunde erkannten – allesamt Lebende, die derzeit stärker gefoltert wurden als sie.
Die Banshee stieß einen Schrei aus, der als verzweifelter Angriff begann und in Entsetzen endete.
Der Albtraum verschlang Unterstadt.
In Sturmwind beobachtete König Varian, wie sich der Nebel und die schaurige Streitmacht auf die Burg zubewegten. Aus verschiedenen Teilen der Stadt erklangen Schreie.
Wir werden angegriffen... und wir können den Feind nicht besiegen...
Sie hatten es mit Pfeilen versucht. Pfeile mit ölgetränkten, brennenden Spitzen. Sie waren nicht effektiver gewesen als Schwerter, Lanzen und alle anderen Waffen. Sämtliche Magier und die anderen Zauberwirker, die in der Stadt noch bei Bewusstsein waren, gaben ihr Bestes, aber ihre Effektivität war begrenzt.
Die tapferen Verteidiger von Sturmwind warteten auf die Befehle ihres Monarchen.
Varian sah seinen Sohn und seine tote Frau. Beide waren immer noch hundertfach vervielfacht und durchquerten gerade das Tor, als bestünde es aus Luft. Nichts hielt diesen lebendigen Albtraum auf.
Plötzlich wurde Varian klar, dass er gar keine Befehle mehr geben konnte... selbst wenn Burg und Königreich unterzugehen drohten.
Durch fast alle bekannten Länder von Azeroth setzte sich der Albtraum fort. Dabei schwand der Nebel stets so weit, dass die wachen Wesen sehen konnten, was aus seinen Opfern geworden war... und welches Schicksal ihnen drohte. Doch egal, ob es die Orcs aus Orgrimmar waren, die Zwerge aus Eisenschmiede oder eins der anderen Völker in einem anderen Land, niemand ergab sich. Sie wussten, dass sie keine andere Wahl hatten... egal, wie wenig Hoffnung sie auch haben mochten.
Doch es gab ein Reich, das merkwürdigerweise frei vom Nebel war. Es war Teldrassil und somit auch Darnassus.
Das bedeutete nicht, dass Shandris Mondfeder nicht gewusst hätte, was auf dem Kontinent vor sich ging. Tyrandes Generalin war durch ihr Netzwerk stets gut informiert.
Ein Netzwerk, das derzeit in rasendem Tempo zusammenbrach.
Shandris legte die letzte Nachricht beiseite, die sie von einem Agenten aus der Nähe von Orgrimmar bekommen hatte. Darin stand nur, was auch aus Sturmwind, Donnerfels und allen anderen Orten, über die Shandris ihr Netz gestrickt hatte, berichtet wurde.
Der mysteriöse Nebel breitete sich aus. Schlimmer für sie war jedoch die Tatsache, dass auch sie nicht wusste, wo sich ihre Königin befand. Tyrande war nach Eschental gereist... und dann scheinbar verschwunden.
Sie ist nicht tot!, redete die Nachtelfe sich ein.
Shandris verließ ihr Quartier. Sie hätte in den Gemächern der Königin wohnen können, wie Tyrande es ihr angeboten hatte, wenn sie in Staatsgeschäften unterwegs war. Doch Shandris bevorzugte ihr eigenes spartanisches Quartier. Hier gab es nichts Schmückendes, das die Natur ehrte, nur Waffen und Kriegstrophäen. Shandris ganzes Streben galt dem Schutz ihrer Königin und ihres Volkes. Mehr als einmal hatte sie während Tyrandes Abwesenheit versucht, einen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Königin durch die Visionen anderer Priesterinnen zu bekommen.
Das war fehlgeschlagen. Stattdessen hatte Elune ihr eine andere Vision geschickt, eine, die die Generalin verwirrte.
Es war eine Vision von Teldrassil gewesen, der von innen her zerfressen wurde. Ein fürchterlicher, schwärender Verfall würde sich nicht nur über die Wurzeln ausbreiten, sondern auch bis zur Krone vordringen. Er würde den Weltenbaum schnell verschlingen.
Die Vision war kurz gewesen, nur drei oder vier Atemzüge lang. Shandris war sie sorgfältig mit jeder Priesterin durchgegangen und verstand sie dennoch nicht.
Die Vision hatte Shandris heute dermaßen beunruhigt, dass sie nicht mehr länger still sitzen konnte. In der Hoffnung, ihre Gedanken zu klären, war sie persönlich die ganze Hauptstadt abgelaufen, war von der befestigten Bastion zur Terrasse der Krieger unten im Handelsbezirk gegangen, durch den mystischen Tempel des Mondes und über die saftigen, mit Skulpturen verschönerten Inselchen in den Gärten. Dort hatte sie einen Abstecher zur Handwerkerterrasse gemacht, bevor sie zu den Kriegerquartieren zurückgekehrt war.
Nur bei der Enklave des Cenarius war sie nicht gewesen. Shandris hatte keine Angst, in die Festung der Druiden zu gehen. Noch respektierte sie Fandral so sehr, dass sie seinetwegen von dort ferngeblieben wäre. Ihre Loyalität galt Tyrande. Selbst jetzt wäre die Generalin normalerweise an der Enklave vorbeigegangen. Aber Shandris hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass, wenn man Antworten finden wollte, es oft besser war, nicht nach der offensichtlichen Quelle zu suchen.