Die schreckliche Vision immer noch im Kopf, erkannte sie plötzlich, dass es jemanden unter den Druiden gab, der ihr vielleicht nützlich sein konnte. Jemand, der ihr die Vision erklären konnte, ohne Fandral davon zu berichten.
Als jemand, die von ihren Untergebenen nichts verlangte, was sie nicht selbst zu tun bereit war, verließ Shandris leise die Kriegerterrasse. Kaum dass sie aus dem Holzgebäude trat, erreichte der vertraute Klang militärischen Drills ihr Ohr. Für Shandris war dies süßer als die Musik ihres Volkes. Seit dem Tod ihrer Eltern im Krieg der Ahnen hatte sie keine Musik mehr genossen... außer den Liedern und Gesängen, die die Priesterinnen während des Kampfes benutzten, wenn sie Elunes Kraft anriefen. Die waren immerhin nützlich.
Sie wollte sich gerade umdrehen... als sie eine Gestalt erblickte, die verstohlen die Tempelgärten nach Norden hin durchquerte. Der Umhang wies sie als Druiden aus, doch ansonsten konnte sie die Person nicht identifizieren.
Shandris ging weiter... dann wandte sie sich um. Sie konnte nicht sagen, warum, aber sie entschied sich, dem Druiden zu folgen.
Die Gestalt verschwand schnell in dem dichten Hain, der zur Enklave gehörte. Shandris folgte ihr. Die Kommandantin der Schildwache bewegte sich wie ein Schatten unter den großen Bäumen. Viele wirkten wie verkleinerte Versionen von Teldrassil. Das wiederum erinnerte sie an ihre Vision.
Der Druide kam wieder in Sicht. Etwas war merkwürdig an seinem Gang – sie vermutete, dass die Gestalt männlich war – und dem Umstand, dass er sich unter seinem Umhang versteckte. Es wirkte beinahe so, als wäre er nicht gern in der Enklave.
Der Druide blieb stehen. Die Gestalt blickte von links nach rechts, als würde sie überlegen, was sie tun sollte.
Dann traf sie eine Entscheidung. Shandris lächelte, weil sie es erraten hatte.
Sie folgte dem Druiden. Oder besser, sie versuchte, ihm zu folgen. Ihr Fuß verfing sich in einer Wurzel, der die Nachtelfe eigentlich ausgewichen war. Als Shandris beiseitetrat, schien sich die Wurzel über den Boden zu winden, um sie wieder am Fuß zu packen.
Die Wächterin bewegte sich geschmeidig, um der Wurzel zu entkommen. Doch ein Ast traf ihr Gesicht. Der Aufprall war so hart, dass Shandris vor den nächsten Baum torkelte.
Die Wurzeln des Baumes umschlossen ihre Knöchel. Shandris zog die Klinge, die sie immer bei sich trug, um sich freizuschneiden.
Doch ein weiterer Ast traf sie am Kopf. Reglos ging Shandris zu Boden.
In diesem Moment öffnete sich die raue Borke. Obwohl sie benommen war, spürte Shandris, wie sie in den Stamm hineingezogen wurde.
Sie mühte sich, ihre Konzentration zurückzuerlangen. Aber erneut wurde sie vor den Kopf geschlagen. Das Innere der großen Eiche umgab sie. Mit verschwommenem Blick beobachtete die Priesterin, wie die Borke sich wieder schloss.
Eine Finsternis, die selbst sie nicht durchdringen konnte, umgab sie. Gleichzeitig bildete sich ein Druck auf ihrer Brust. Shandris erkannte vage, dass es hier drin zu eng war. Sie konnte nicht atmen...
Die Nachtelfe wurde ohnmächtig und wusste, dass der Tod unmittelbar bevorstand.
Dann wich die Borke wieder. Der Druck schwand. Frische Luft umgab Shandris, sie taumelte vorwärts.
Sie landete in den Armen einer kräftigen Gestalt. Shandris versuchte, sich zu erholen. Sie war sich sicher, dass ihr Gegner sie erwischt hatte.
Ein moschusartiger Geruch umgab die Nachtelfe und holte sie ins Bewusstsein zurück. Sie blickte auf und erkannte die Gestalt.
Es war ein Tauren.
Hamuul Runentotem blickte sie aus zusammengezogenen Augen an. „So... du bist es also...“
19
Erwachen im Albtraum
Es gab keine Hoffnung. In seinem ganzen langen Leben hatte Malfurion eine solche Gefahr nur einmal erlebt. Das war im Krieg der Ahnen gewesen.
Der grüne Drache, den ihnen Ysera geschickt hatte, trug immer noch Malfurion, Tyrande, Broll, Lucan und auch Thura von der Katastrophe weg. Die grünen Drachen befanden sich auf dem Rückzug, und die letzten Verteidiger am Boden waren in völliger Auflösung begriffen, weil sie wussten, was geschehen war. Ihre Moral war so gering wie die von Malfurion, vielleicht sogar noch geringer. Sie wussten, dass sie allmählich verloren. Doch nun erkannten sie zudem, dass all ihre Bemühungen nichts als Lügen gewesen waren. Der Albtraum hatte sie provoziert und auf seine Gelegenheit gewartet.
Da er Ysera in seiner Gewalt hat, kann er alles machen! Warum hat sie das alles für mich riskiert?
Ysera war zwar erst durch Lethons Trickserei gefangen genommen worden. Doch sie wäre gar nicht in Gefahr geraten, wäre da nicht ihr völlig unerklärliches Interesse an Malfurions Flucht gewesen.
„Er holt uns ein!“, brüllte Tyrande.
Sie sprach die schreckliche Wahrheit aus. In seinem Kopf sah Malfurion den leuchtenden Umriss eines anderen Druiden in seiner Traumgestalt, der nicht von den Ranken des Schattenbaums angriffen wurde, sondern von den Opfern des Albtraums. Deren Klauenhände zerrten an der Traumgestalt, als bestünde der Nachtelf aus dünnem Stoff. Er schrie, als sein innerstes Wesen in tausend Stücke gerissen wurde...
Kaum einen Augenblick später sah Malfurion den Druiden in vorderster Reihe der monströsen Horde des Albtraums kämpfen. Seine Traumgestalt war nun dunkler und hagerer. Korrumpiert richtete er seine verderbten Finger auf den nächsten der übrig gebliebenen Verteidiger, damit er sich dem Albtraum anschloss.
Aber so fürchterlich sein Versagen auch war, so verschwindend gering die Chancen, wusste der Erzdruide dennoch, dass er sich dem Unausweichlichen nicht verschließen konnte. Er durfte nicht zulassen, dass der Albtraum noch einen Sieg errang, während er floh.
Doch als er sich in den Kampf stürzen wollte, brüllte ihm der grüne Drache zu: „Jetzt ist nicht die Zeit dafür! Ysera hat sich nicht für dich geopfert, damit du gleich wieder verloren gehst! Meine Königin sagte uns kurz vor dem Angriff, dass du wichtiger für Azeroth bist als sie! Und obwohl wir das kaum glauben konnten, vertrauen wir doch ihrem Wort!“
„Wichtiger?“, fragte Malfurion ungläubig. „Sie hat den Albtraum so lange bekämpft, dass ihr Geist sicherlich darunter gelitten hat!“ Er gab sich mehr Mühe, sich zu befreien und spürte schließlich, wie sich seine Traumgestalt von dem Drachen löste.
Tyrande spürte, was er tat. Sie griff nach dem Erzdruiden. „Malfurion! Nein!“
Ihre Hand glitt durch seine Traumgestalt hindurch. Malfurion bemühte sich, nicht auf sie zu achten. Ein Teil von ihm wollte nichts anderes, als bei Tyrande bleiben, aber seine Pflicht verlangte ihn anderswo.
Zu seiner Bestürzung begann die Umgebung zu verblassen. Zu spät erkannte der Erzdruide, dass er durch seine Anstrengung, sich vom Zauber des grünen Drachen zu befreien, etwas anderes in Gang gesetzt hatte.
„Nein!“ Malfurion versuchte das Unausweichliche aufzuhalten. „Nein!“
Der Erzdruide setzte sich auf. Der Schmerz durchzuckte augenblicklich seinen Körper. Er fasste sich an die Brust und rollte sich herum.
Er war wieder zurück in der Gruft. Es hätte ihn nicht überraschen dürfen. Das Band zwischen seinem Körper und seiner Traumgestalt war stark.
Doch etwas fühlte sich falsch an. Malfurion bleckte die Zähne und kämpfte gegen den Schmerz an. Lag es daran, dass er so lange fort gewesen war?
Der Erzdruide stieß ein Grunzen aus. Ihm war klar, dass er ohne die Hilfe anderer möglicherweise nicht so lange überlebt hätte.
Sein Körper befand sich in gutem Zustand. Er spürte die Berührung Elunes, eine Kraft, die der Nachtelf noch gut von Tyrande kannte. Malfurion hatte keinen Zweifel, dass seine Geliebte hinter den Rettungsmaßnahmen steckte.