Aber obwohl er so laut stöhnte, kam ihm keine Priesterin zu Hilfe.
Allmählich erholte er sich. Plötzlich spürte Malfurion etwas, das er nur mit den hoch entwickelten Fähigkeiten eines Druiden bemerken konnte.
Die Quelle seines Leidens – die ihn immer noch töten wollte – war die winzige Menge eines Pulvers. Schnell identifizierte er das magisch verstärkte Kraut, das zu seiner Herstellung benutzt worden war. Morgenkorn. Morgenkorn wurde angeblich für einige primitivere Flüche verwendet. Doch obwohl es durchaus wirksam war, hatte irgendjemandem die ihm innewohnende Kraft allein nicht ausgereicht. Dieser schwache Zauber hätte genügen müssen, um Malfurions langsamen, aber sicheren Tod zu garantieren.
Wer immer auch dafür verantwortlich war, hatte jedoch das heilende Licht von Mutter Mond unterschätzt. Damit hatten die Priesterinnen Malfurions Körperhülle am Leben gehalten, obwohl das Gift auf die Dauer vielleicht doch noch gewirkt hätte.
Malfurion konzentrierte sich auf das Pulver und zog es aus seinen Körperzellen heraus. Er bildete eine faulige Kugel daraus...
Plötzlich musste sich der Erzdruide übergeben.
Er konnte die kleine Kugel nicht erkennen, die er ausspuckte. Aber er spürte, wie ihr grässlicher Einfluss schwand. Malfurion schnappte nach Luft, als er sich langsam erneut erhob.
Erst dann erblickte er die beiden Priesterinnen. Beide lagen auf dem Boden seiner Gruft. Sie lebten noch, waren aber ohne Bewusstsein.
Dabei zuckten sie und murmelten immer wieder etwas mit angsterfüllter Stimme.
Auch in der Gruft hatte sich der nur allzu vertraute Nebel ausgebreitet.
Malfurion hatte ursprünglich vorgehabt, erneut zu meditieren, um in seine Traumgestalt zurückzukehren. Doch nun ging er vorsichtig durch den Nebel auf den Eingang zu. Er konnte nichts für die Priesterinnen tun, zumindest nicht im Augenblick. Der Erzdruide musste wissen, wie weit sich die Bedrohung bereits über die Mondlichtung ausgebreitet hatte.
Aber das Bild, das sich ihm draußen bot, zeigte, wie falsch er gelegen hatte. Die Mondlichtung war völlig vom Nebel bedeckt, wodurch sie eher wie ein Friedhof wirkte. Kein Geräusch war zu hören, nicht einmal eine Grille.
Der Nachtelf schlich vorsichtig durch das Gestrüpp und kam zu einer weiteren Gruft. Er schlüpfte hinein.
Er erblickte eine reglose Gestalt in vertrauter Robe. Die Kapuze bedeckte das Gesicht des Schläfers. Malfurion kniete neben dem Druiden nieder und berührte die Handgelenke des Nachtelfen.
Sie fühlten sich kalt an.
Malfurion schob schnell die Kapuze beiseite.
Der offen stehende Mund der Leiche ließ den Erzdruiden erschaudern. Der Bewohner der Gruft hatte offensichtlich seine Traumgestalt ausgeschickt, war aber nicht in der Lage gewesen, rechtzeitig zurückzukehren. Malfurion fragte sich, ob der arme Kerl zu denen gehört hatte, die den Albtraum bekämpften oder ob er schon vorher fortgegangen war.
Weil Malfurion derzeit nichts für die sterblichen Überreste des Druiden tun konnte, verließ er die Gruft. Er fragte sich, wie viele der anderen irdenen Grüfte solche Leichen enthielten.
Malfurion wusste, dass seine Chancen, den Lebenden zu helfen, größer waren als bei den Toten. Er überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Der Erzdruide dachte nicht länger an Meditation, die Mondlichtung war befleckt worden. Die Rückkehr in seine Traumgestalt war zu riskant. Er musste an einen anderen Ort, andere Verbündete finden.
Doch am wichtigsten war, herauszufinden, was mit Tyrande und den anderen geschehen war. Sie hatten den Smaragdgrünen Traum in ihrer physischen Gestalt betreten. Malfurion war klar, dass sie ein Portal benutzt hatten. Und das nächste befand sich im Eschental.
Kaum hatte er seinen neuen Weg gewählt und begonnen, sich in eine Sturmkrähe zu verwandeln, als Malfurion erkannte, dass er sich auf etwas anderes konzentrieren musste, das ihn fast in die entgegengesetzte Richtung führte. Obwohl er lange eingesperrt gewesen war, wusste Malfurion, dass sein Volk eine neue Siedlung im Westen geplant hatte, einen Ort fern der Küste. Selbst durch den Albtraum hindurch hatte Malfurion die mächtigen Versuche der anderen Druiden gespürt, etwas zu tun. Unglücklicherweise hatte er nicht mitbekommen, wie es ausgegangen war, weil er seine eigenen Aktionen vor dem Albtraum verborgen halten musste. Er hatte allerdings ein paar Hinweise und Vermutungen...
Er schaute sich auf der nebelverhangenen Lichtung um. Es gab kein Anzeichen von Remulos. Sicherlich wäre der Wächter der Mondlichtung erschienen, wenn er gespürt hätte, dass Malfurion erwacht war. Malfurion ließ seine Gedanken weit hinauswandern, konnte den Halbgott aber immer noch nicht finden. Hatte sich Remulos auch den anderen Druiden angeschlossen?
Die Ironie, dass er nun auf Azeroth genauso allein war wie als Gefangener des Albtraumlords, entging dem Erzdruiden nicht. Er dachte darüber nach – und dann fragte er sich, warum er eigentlich noch seine Zeit verschwendete, statt sofort zu handeln.
Malfurion konzentrierte sich. Augenblicklich verschwamm seine Umgebung... und erst da erkannte er die wahre Gefahr.
Er war einem Tagtraum zum Opfer gefallen. Er konnte nichts dafür. Der Albtraum war so mächtig, dass er die Mondlichtung bereits durchdrungen hatte. Gefangen in der Sorge um andere, hatte der Erzdruide nicht bemerkt, wie er in einen halbdämmernden Zustand geglitten war. Wahrscheinlich war den Priesterinnen neben seinem Körper dasselbe passiert.
Aber das hatte dem Albtraum nicht gereicht. Malfurion bewegte sich und stellte fest, dass die Lichtung selbst ihn angriff.
Die Grashalme legten sich um seine Beine, den Körper und die Anne. Die Bäume beugten sich vor, um ihn komplett zu bedecken. Sie alle waren von der vertrauten dunklen Macht berührt worden, die er im Smaragdgrünen Traum kennengelernt hatte... nur dass diese Welt wach war. Der Albtraumlord hatte Yseras große Macht benutzt, um die letzte Grenze zwischen Traum und Realität zu zerstören.
Nur für einen kurzen Moment überlegte Malfurion, ob er sich einfach seinem Untergang hingeben sollte. Er war verantwortlich dafür, dass der Aspekt in Gefangenschaft geraten war und ganz Azeroth Gefahr drohte. Doch dieser Gedanke schwand schnell, als Tyrandes vertrauensseliger Blick in seinen Gedanken erschien.
Der Erzdruide konzentrierte sich. Das ist nicht Eure Natur, ermahnte er das Gras und die Bäume. Dies ist eine Perversion dessen, was doch ein Teil von Euch ist...
Er spürte, wie das Gras losließ. Aber die Bäume antworteten noch nicht. Sie schüttelten ihre Wurzeln, als wollten sie sich selbst befreien, während sie gleichzeitig immer noch Malfurion angriffen. Plötzlich bewegte sich die Borke und bildete das Gesicht des Nachtelfen wie zum Spott nach.
„Das ist nicht Eure Natur“, sagte Malfurion nun laut. Zur gleichen Zeit konzentrierte er sich mit seiner jahrtausendealten Erfahrung auf die Flora. „Dies ist ein Ort des Friedens, der Ruhe... dieser Ort berührt das Herz von Azeroth und wird ebenso von ihm berührt...“
Das Gras ließ ihn los. Die Bäume versteiften sich plötzlich. Die Abbilder seines Gesichts verschwanden von der Borke.
Die Mondlichtung war wieder still, wenn auch immer noch nebelbedeckt.
Malfurion atmete tief durch. Was er getan hatte, war nicht leicht gewesen. Der Albtraumlord hatte sich ganz speziell auf ihn konzentriert. Glücklicherweise hatte das Böse den Erzdruiden unterschätzt.
Dadurch wurde Malfurion eines klar: Er musste in den Smaragdgrünen Traum zurückkehren – oder dem, was noch davon übrig war -, bevor es zu spät war. Der grüne Drache hatte etwas Interessantes gesagt. Ysera schien der Meinung zu sein, dass Malfurion wichtiger war als sie selbst. So wichtig, dass sie ihr Leben dafür riskierte.
Malfurion schrie frustriert auf. Er war sicherlich kaum wichtiger als die Herrin des Smaragdgrünen Traums! Dennoch schuldete er ihr etwas für ihr Opfer. Und auch Azeroth schuldete er etwas. Denn nur durch seine Gefangennahme hatte der Albtraumlord überhaupt zuschlagen können.