Kaum hatte er das gesagt, als ein Schrei in der Nähe erklang. Sie wandten sich um und erblickten einen weiteren Verteidiger ein paar Meter hinter ihnen entfernt, der sich durch den Nebel kämpfte. Hände bildeten sich darin und zerrten an ihm, und die grauenhaften Gesichter der Sklaven des Albtraums bedeckten begierig den unglückseligen Soldaten, als wollten sie ihn verschlingen.
Bevor ihm jemand helfen konnte, verschwand der Mann. Sein Schrei hallte nach und wurde selbst zum Teil des Albtraums.
„Schneller!“, befahl der Kämpfer, der Broll zuerst gegenübergetreten war.
Mit großer Eile wurden sie eine lange Abfolge von Steinstufen hinabgeführt, und dann ging es über einen Hof zu einem anderen Teil der Mauer. Als sie den erreichten, fragte ßroll ihren Führer: „Wie steht es um die Stadt?“
„Die liegt in Trümmern! Der Handelsdistrikt, der Hafen, das Tai der Helden... die Finsternis ist überall!“, rief der Mann zurück. „Ab und zu hören wir Kampfeslärm aus der Altstadt und dem Zwergendistrikt. Und das Magierviertel ist immer noch nicht gefallen!“ Er wies nach rechts, wo der Druide ein sich stetig veränderndes Spektrum von Farben aufleuchten sah, was auf den massiven Einsatz von Zauberei hinwies. Es gab ein paar Bereiche, wo ebenfalls noch ein wenig Licht zu herrschen schien.
„Vor einer Stunde war es noch heller“, fuhr der Soldat fort. „Wir halten es nicht auf. Niemand hält es auf...“
„Es ist schon erstaunlich, dass Ihr überhaupt noch hier seid“, unterbrach ihn Tyrande. „Was meint Ihr, Broll?“
Der Druide nickte. „So tapfer und stark Sturmwinds Verteidiger auch sein mögen – egal, ob Krieger oder Magier -, eigentlich hätten sie schon lange verloren haben müssen...“ Er überlegte, und ein wenig Hoffnung stieg in ihm auf. „Es könnte Malfurions Werk sein. Doch ich glaube eher, dass Ysera dahintersteckt.“
„Aber Ysera wurde gefangen genommen!“
Broll war ein wenig stolz auf das, was er als Nächstes sagte. „Sie ist ein Aspekt, einer der großen Drachen! Außerdem ist sie der Smaragdgrüne Traum! Selbst als Gefangene des Albtraums kämpft sie weiter...“
Thura dachte an die trüben Aussichten, die sich ihnen unausweichlich boten. „Sie kämpft für uns, aber diese Stadt wird fallen... und vielleicht auch Orgrimmar.“
Sie eilten eine weitere Treppenflucht hinab. Mehr als einmal hörten sie Schreie des Schreckens und der Bestürzung.
„Ysera hat sich selbst geopfert, damit Malfurion fliehen konnte!“, fügte der Druide hinzu. „Offensichtlich ist sie der Meinung, dass mein Shan’do noch etwas bewirken kann!“
„Und was ist mit uns?“, fragte Tyrande.
Darauf hatte Broll keine Antwort. Er konnte ihr einfach nicht sagen, was stetig an ihm nagte. Der letzte Albtraum, in dem seine Tochter vorgekommen war, hatte ihm sein Versagen mit voller Wucht in Erinnerung gebracht. Er war nicht Malfurion Sturmgrimm, er war nicht einmal ein Erzdruide.
Er war nur ein rebellischer ehemaliger Gladiator und Sklave.
Doch das trieb Broll auch an. Der Soldat führte sie schließlich zu einer vertrauten Gestalt. Selbst unter der Rüstung war die Körperhaltung des Mannes einzigartig.
„Lo’Gosh!“, brüllte Broll.
Die gerüstete Gestalt wirbelte herum. Durch die Helmschlitze blickten ihn Varians geweitete Augen an.
Unglücklicherweise fiel der Blick des Königs auf Thura. „Ein Orc in Sturmwind!“
Varian stürmte augenblicklich vor, sein legendäres Schwert Shalamayne hoch erhoben. Shalamaynes großartige Klinge mit der einzigartigen Spitze und der dickeren, abgewinkelten Kante weiter unten wirkte, als könnte sie Thura in zwei Teile schneiden. Der Edelstein am unteren Ende der Klinge strahlte wie eine wütende Sonne.
Thura begann sich selbst zu verteidigen, was Varian nur als Bestätigung seines Verdachts ansah. Er umfasste entschlossen den langen schmalen Griff des Schwertes, die gebogene Parierstange schützte seine steifen Finger. „Möge dein Blut das erste von Tausenden Orcs sein, die in dieser Nacht sterben werden. Ich...“
Doch Broll stellte sich vor Thura. „Habt Ihr was an den Augen, Lo’Gosh? Das ist nicht gut für einen König und erbärmlich für einen Gladiator!“
„Broll Bärenfell!“ Obwohl der König seinen Freund bemerkte, senkte er das Schwert nicht. „Geh von dem verdammten grünen Ungeheuer weg! Ich werde es erschlagen...“
„Sie gehört zu uns! Sie hat nichts damit zu tun, genauso wenig wie Thrall!“
Varian konnte es nicht fassen. Doch dem Herrn von Sturmwind war klar, dass sein alter Kamerad tatsächlich zwischen Thura und ihm stand.
„Ich weiß noch nicht einmal, ob das hier wirklich real ist!“, knurrte Varian. „Sag mir, dass du echt bist, Broll...“
Der Druide streckte die Hand aus. Nach einer zögerlichen Pause ergriff sie der Herr von Sturmwind. Sein Blick wurde milder, als er dem Druiden die Hand schüttelte.
„Du bist es wirklich! Wahrlich... glaube ich zumindest!“
„Wenn Ihr spüren könnt, wie meine Knochen gerade brechen, dann wisst Ihr auch, dass ich echt bin!“ Broll und der König ließen einander los. Die Freude über ihr Wiedersehen wurde von dem schrecklichen Anlass getrübt. „Was ist mit Valeera? Ist sie nicht auch dabei?“
„Ich habe deine Blutelfenschurkin schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Du weißt, wie eigensinnig sie sein kann!“ Varian verzog das Gesicht. „Glaub mir, so eine Kämpferin könnten wir hier gut gebrauchen, Broll. Ich hoffe, sie wurde nicht wieder beim Stehlen erwischt. Nicht, dass sie wieder für jemanden wie Rehgar Erdenwut kämpfen muss“, schloss Varian und bezog sich auf den orcischen Schamanen, für den sie als Gladiatoren und Sklaven im Purpurroten Ring gekämpft hatten. Alle Kämpfe dort gingen bis zum Tod, und selbst Valeera hatte einige Gegner getötet.
Der Druide verbarg seine Enttäuschung nicht. Er konnte nur hoffen, dass die Blutelfe in Sicherheit war, wo auch immer sie gerade stecken mochte.
Doch wo genau sollte ein sicherer Ort liegen?
„Ich kenne dich“, sagte Varian und blickte an dem Nachtelfen vorbei zu Lucan. „Fuchsblut. Wir glaubten dich schon verloren.“
Der Kartograf erwiderte: „Das war ich auch.“
Varian nickte Tyrande kurz, aber sehr freundlich zu. Sie hatte den König kennengelernt, kurz nachdem er den Thron wiedererhalten hatte. „Euer Majestät...“ Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Thura. Er hob das Schwert erneut an und zielte damit auf die Orcfrau. „Aber warum bringst du solchen Abschaum mit nach Sturmwind, Broll? Was hast du dir dabei nur gedacht? Ihr Kriegshäuptling nutzte einst den Nebel, um sich an unsere Mauern heranzuschleichen, wie ein ehrloser Meuchelmörder. Statt sich uns offen entgegenzustellen, nutzte er eine Seuche, um uns zu schwächen. So eine verderbte Waffe würde kein wahrer Krieger je einsetzen...“
„Thrall ist weder ein Meuchelmörder, der durch den Nebel streicht, noch ein ehrloser Krieger!“, antwortete Thura. „So darfst du nicht über ihn sprechen...“
Bevor die Lage eskalieren konnte sagte Brolclass="underline" „Ruhig, Lo’Gosh! Wir haben keine Zeit für Streitereien! Sie gehört zu uns. Ich bürge für sie mit meinem Leben! Mit meinem Leben!“
„Dann scheinst du dein Leben nicht sehr hoch zu achten, Broll...“
„Aufhören! Wir haben wichtigere Dinge zu besprechen! Sagt mir ehrlich, wie lange hält Sturmwind noch durch?“
„Eigentlich haben wir bereits verloren. Doch obwohl der Feind stetig weiter vorrückt, geschieht das nur sehr langsam. Unsere Waffen sind zum größten Teil nutzlos, und alle Bezirke, bis auf ein paar, sind gefallen. Morgen schon könnte nur noch ein Rest der Burg Widerstand leisten, wenn es denn ein Morgen gibt. Wenn du irgendeine Idee hast, wie du uns retten kannst, dann unterstütze ich dich dabei, so gut ich kann. Das weißt du.“
„Freut mich, das zu hören. Ich hoffe, dass Ihr das immer noch meint, wenn ich Euch gesagt habe, was wir vorhaben.“ Der Druide erklärte schnell seine Absichten.
Varian runzelte die Stirn, als er dem Plan zu folgen versuchte. „Ich nehme dich beim Wort, Broll“, sagte der Monarch schließlich. „Die Frage bleibt, was sollen wir dagegen tun?“