„Mein Shan’do ist der Schlüssel... irgendwie. Ich glaube, dass er der Schlüssel zur Lösung all unserer Probleme ist.“ Broll wies auf Lucan. „Euer Mann hat ein sehr bemerkenswertes Talent... doch gelegentlich führt es uns auf einen anderen Weg. Wir müssen schnell nach Darnassus reisen... schneller, als selbst ich es könnte, wenn ich allein wäre...“
„Wir haben noch fliegende Reittiere in der Burg“, meinte Varian. „Ein paar davon könnten wir euch geben...“
Tyrande trat vor. „König Varian. Gestattet mir eine Frage, denn ich glaube, dass es einen anderen Weg geben könnte, wie zumindest einer von uns Darnassus noch schneller erreichen kann. Schneller als selbst das schnellste Reittier.“
„Wenn ich Euch dienlich sein kann, dann fragt...“
„Wisst Ihr, wo sich unsere Botschafterin gerade aufhält?“
Varian blickte finster. „Sie ist wie so viele andere im Schlaf gefangen... in ihrer Kammer, wenn ich mich recht erinnere.“
„Wir brauchen jemanden, der uns zu ihr bringt“, meinte die Hohepriesterin.
„Ich kann die Burg nicht verlassen.“ Der König blickte von Tyrande zu Broll. „Major Mattingly!“
Ein grauhaariger Veteran in rotgoldener Rüstung mit königsblauem Umhang, auf dem der stolze Löwe von Sturmwind prangte, eilte herbei. Sein Gesicht war gezeichnet von langer Erfahrung, und er trug einen kurz geschnittenen Bart. In seiner rechten Hand hielt er ein langes Schwert.
„Der Druide!“, krächzte der Major, als er Broll sah. „Ich kenne dich...“
„Und ich Euch“, antwortete Broll. „Ihr habt unter General Marcus Jonathan gedient...“ Der Nachtelf erinnerte sich an die Worte des Soldaten, der sie hergebracht hatte. Das Tal der Helden, wo der General und Mattingly postiert waren, war bereits gefallen.
Der Blick des Majors bestätigte Brolls Bedenken. „Als der Nebel unsere Männer zu verschlingen begann, schickte der General nach Unterstützung. Er sandte mich aus. Doch bevor ich zurückkehren konnte... bedeckte der Nebel das ganze Tal...“
„Und dieser verdammte Narr wäre beinahe selbst wieder hineingeritten“, fügte Varian ohne Wut hinzu. „Doch Mattingly wusste, dass wir jeden Mann brauchten und befahl seine gerade zusammengerufene Streitmacht hierher zurück...“ An den Major gewandt sagte der König von Sturmwind: „Ihr wisst, wo die Botschafterin der Nachtelfen lebte – lebt. Ich brauche einen vertrauenswürdigen Mann, der vorsichtig genug ist, um dorthin zu gelangen... obwohl man mir nicht sagt, worum es dabei genau geht.“
Tyrande zögerte nicht. „Sie hat einen Ruhestein.“
Varian riss nicht als Einziger die Augen weit auf. Broll wusste, wovon die Hohepriesterin sprach, obwohl selbst er nur zweimal einen solchen Gegenstand gesehen hatte. Ein Ruhestein war ein handflächengroßer, oval geformter Kristall, der durch arkane Magie an seinen Träger und einen bestimmten Ort gebunden war. Meistens waren es wichtige Städte, wie Sturmwind oder in diesem Fall Darnassus. Die Entfernung spielte dabei keine Rolle.
„Ich habe sie immer für eine Legende gehalten“, sagte Varian vorsichtig. „So etwas gibt es doch nur in Geschichten von Magiern... oder Elfen.“
„Oder Elfen“, wiederholte die Hohepriesterin mit einem kurzen grimmigen Lächeln.
„Interessant, dass Eure Botschafterin einen besitzt.“
„Aber gut für uns“, antwortete Tyrande ruhig.
Der König nickte und sagte nichts mehr. Er blickte zu dem Major, der salutierte. Mattingly bedeutete den anderen, ihm zu folgen.
Varian unternahm keinen Versuch, die Orckriegerin davon abzuhalten, sich den Nachtelfen anzuschließen. Und weder Broll noch Tyrande wollten Thura bei den Menschen zurücklassen. Thura schien auch nur wenig Neigung zu verspüren hierzubleiben.
Doch ein Mitglied der Gruppe sorgte für eine Überraschung. Statt bei seinem König zu bleiben, folgte Lucan Fuchsblut ihnen ebenso.
„Ihr seid zu Hause“, murmelte Broll. „Bleibt hier!“
„Ich werde vielleicht gebraucht“, erwiderte Lucan. Er blickte ihn entschlossen an. „Meine Fähigkeiten mögen unzuverlässig und gefährlich sein, doch sie sind nützlich... falls wir mal wieder fliehen müssen...“
Der Druide sagte nichts weiter. Sie waren bereits an den Toren der Burg angekommen.
Ein gebrühter Befehl des Majors öffnete den Weg, auch wenn die Wachen den Eingang hinter ihnen eiligst wieder schlossen. Als sie die Burg verließen, bemerkte Tyrande etwas, das augenblicklich auch allen anderen auffiel.
„Der Nebel ist hier dichter. Doch von den armen Seelen ist nichts zu sehen...“
„Warum sollten sie hier sein?“, antwortete Broll grimmig. „Dieser Teil von Sturmwind befindet sich bereits unter der Kontrolle ihres Herrn!“
Tatsächlich erklang kein Geräusch aus der Nähe, obwohl sie in der Ferne Rufe, Schreie und Explosionen hören konnten – letzte Zeichen der schwindenden Verteidigung. Die unheimliche Stille erinnerte sie daran, wie der größte Teil von Azeroth derzeit aussah.
„Sie muss durchhalten“, knurrte der Druide und bezog sich auf Ysera. „Sie muss...“
„Und wir müssen beten, dass es Malfurion gut geht und er uns helfen kann“, fügte Tyrande hinzu. Sie sagte nicht, was aus ihrem Tonfall sowieso klar herauszuhören war – dass sie aus Liebe um sein Leben fürchtete.
„Eure Botschafterin wohnt im Handelsbezirk“, erklärte der Major. „Dabei habe ich nie verstanden, warum sie diesen Ort dem Park vorgezogen hat, wo Euer Volk normalerweise zusammenkommt.“ Als die Hohepriesterin es nicht erklärte, zupfte sich Mattingly am Bart und wechselte das Thema. „Am besten meiden wir den Platz vor der Kathedrale. Dort wird noch gekämpft, und wir könnten irrtümlich von einem Zauber getroffen werden. Wir sollten auch die Kanäle meiden... dort ist der Nebel besonders stark... eine Menge Leute hat es dort unten völlig unvorbereitet erwischt, als er das erste Mal in die Stadt kroch.“
Lucan verzog das Gesicht. „Aber das bedeutet, dass wir durch die Altstadt müssen.“
Mattingly lachte heiser auf. „Dort sieht es mittlerweile auch nicht mehr anders als im Rest der Hauptstadt aus, Fuchsblut!“
Sie rannten eine gepflasterte Straße hinunter, an deren nördlichem Ende der Eingang zum Zwergendistrikt lag. Von dort erklangen Geräusche des verzweifelten Kampfes. Die Zwerge zumindest kämpften noch.
Vorsichtig führte der Major sie über eine Straße in die Altstadt. Trotz Mattinglys Bemerkung erkannten sie, dass Lucan zu Recht besorgt gewesen war. Die Altstadt war nicht allzu stark von den Orcs beschädigt worden, und deshalb hatte man sie nie renoviert. Obwohl es noch recht ordentlich aussah, war der Stadtteil bei Weitem nicht so makellos wie der Rest der Stadt. Zwar standen die Halle der Champions und ebenfalls die Kasernen der Armee hier, doch gab es auch Bettler, Diebe und anderes Elend. Die Straßen waren weit schmutziger als alle anderen, über die die Gruppe bislang gereist war. Und der Geruch nach Verwesung stammte nicht vom Albtraum.
„Achtung, da liegt jemand...“ warnte sie Mattingly.
Drei zerlumpte Menschen lagen vor ihnen am Boden. Der Erste hatte eine Hand zur Faust geballt. Sein Mund stand offen. Die anderen beiden sahen aus, als ob sie einander beim Gehen hatten helfen wollen, jeder hatte den Arm um den anderen gelegt. Der Major ließ den Anblick lange genug wirken, um die Gruppe anzuspornen.
„Der Erste ist tot – vor Angst, so erscheint es mir -, aber die beiden daneben schlafen lediglich, wie alle anderen auch“, berichtete er. „Wir gehen weiter.“
Schon bald wurde offensichtlich, dass sie sich ohne ihren Führer leicht verlaufen hätten. Selbst Lucan der Kartenmacher schien diesen Teil von Sturmwind nicht gut zu kennen.
Doch ihr Fortkommen wurde nicht nur vom Nebel behindert. Die Straßen schlängelten sich oft derart merkwürdig, dass die Furcht der Gruppe davon noch geschürt wurde.
Sie kamen an weiteren am Boden liegenden Menschen vorbei, doch Major Mattingly blieb nicht wieder stehen, um sie zu untersuchen. Es war klar, dass sie alle Opfer des Albtraums waren, egal, ob tot oder lebendig.