Tyrande stieß die Botschafterin fort und rief: „Broll! Der Ruhestein! Nehmt ihn!“
Er tat, wie sie befahl. Doch als er ihr das Artefakt zuwerfen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Ihr könnt den Stein nun auch selbst benutzen! Er sollte Euch direkt nach Darnassus bringen!“
„Ihr wollt, dass ich Euch zurücklasse?“
„Nein! Ich will, dass Ihr uns allen dabei helft, Malfurion zu finden! Geht! Ich befehle es Euch!“
Sie hatte dem Druiden noch nie einen richtigen Befehl erteilt, und er wusste, dass das eigentlich auch nicht ihre Art war. Doch Broll verstand die Notwendigkeit ihres Wunsches, obwohl es ihm gar nicht gefiel, die anderen hier zurückzulassen.
„Ich werde ihn finden! Wir halten das Böse auf!“
Er umfasste den Ruhestein und konzentrierte sich. Der Stein begann zu leuchten.
Die Schattenkreaturen konzentrierten sich auf ihn. Die Grenze zwischen Albtraum und Realität wurde immer dünner, und der Druide hatte keinen Zweifel daran, dass diese Feinde ihn nun töten konnten. Broll wusste, dass er sich auf den Ruhestein und den Ort, an den er gebunden war, konzentrieren musste.
Silbernes Licht verschlang den Nächsten der Angreifer. Der Schatten stieß ein gequältes Zischen aus und wand sich, bevor er schwand.
Der Zweite wandte sich Tyrande zu, die mit der unglückseligen Botschafterin kämpfte. Broll hätte beinahe die Kreatur verfolgt, doch Tyrande blickte den Druiden an.
Der Ruhestein leuchtete.
Broll verschwand aus dem Raum...
... und materialisierte in Darnassus.
In einem Darnassus, das mitten in seinem eigenen Schrecken steckte. Broll wurde durchgeschüttelt. Er verlor den Ruhestein aus der Hand, der außer Sichtweite rollte.
Zuerst dachte der Druide, dass in Darnassus ein Erdbeben getobt hatte. Aber das war auf Teldrassils Spitze eigentlich nicht möglich. Dann spürten seine geschärften Sinne die schreckliche Wahrheit. Es war Teldrassil selbst, der die Nachtelfen attackierte. Seine Zweige griffen jedes Gebäude an. Die großen Äste, auf denen die Stadt ruhte, bebten, sie waren der Grund für die Erschütterung. Überall stürzten sich schwarze dornige Blätter auf die Bürger, durchdrangen ihre Haut und hinterließen lange, bösartige Schnitte. Mehrere Leichen lagen auf der einst schönen Landschaft.
Doch die Bewohner der Hauptstadt waren nicht ohne Schutz. Die Schwestern der Elune standen an vorderster Front und beschützten alles um sie herum, so gut sie konnten. Ihr Licht behinderte das Böse oder hielt es sogar zurück.
Aber selbst das Gras unter ihren Füßen war ein ähnlich verschlagener Feind wie die dunklen Blätter oder die Schattenkreaturen, die sich aus diesen Blättern gebildet hatten. Alles, was ein Teil von Teldrassil gewesen war, hatte sich nun gegen Brolls Volk gewandt.
Und erst jetzt konnte Broll spüren, wie schrecklich verderbt der Weltenbaum war. Ähnlich bestürzt war er über die unglaubliche Macht, die nicht nur Teldrassil, sondern die ganze Verderbtheit nährte.
Ausgerechnet die Druiden unterstützten diesen Terror. Ihre Zauber stärkten den Weltenbaum auf eine Weise, von der Broll nicht glauben konnte, dass sie sie wirklich verstanden.
Broll lief in Richtung des Portals, das ihn zu den Druiden bringen würde. Sie mussten gewarnt werden, und zwar schnell.
Doch die Blätter attackierten ihn. Broll verbrannte das Laub mit einem hellvioletten Feuer, bevor es ihn berühren konnte. Nachdem der Weg zumindest zeitweise frei war, verwandelte er sich in eine Raubkatze, weil er so einfach schneller war.
Das Portal kam in Sicht. Broll zögerte nicht, hindurchzuspringen. Wenn er erst bei seinen Brüdern war, konnten sie ihm dabei helfen, diesen schrecklichen Angriff aufzuhalten.
Die Welt um ihn herum drehte sich. Es war ein völlig anderes Gefühl als mit dem Ruhestein. Der Druide fühlte sich, als würde er vorwärtsgestoßen.
Einen Atemzug später sprang Broll aus dem Portal am Fuß von Teldrassil. Die große Katze untersuchte die Umgebung und war nicht überrascht, dass niemand in der Nähe war. Die Druiden waren immer noch am Versammlungsort.
Auf seinen vier starken Beinen lief Broll entlang der Grenze von Teldrassil und suchte die Versammlung. Wie konnten sie nur dermaßen unvorsichtig sein?, fragte er sich. Zumindest Fandral und die anderen Erzdruiden hätten spüren müssen, was geschah...
Fandral.
Eine böse Vorahnung überkam Broll. Er erinnerte sich daran, wie nah Fandral Teldrassil stand. Der Weltenbaum war für den obersten Erzdruiden wie ein Kind. Fandral hätte wirklich spüren müssen, was vorging.
Es sei denn...
Ein Dornenregen traf die große Katze. Broll brüllte vor Schmerz, verlor den Halt und stürzte vorwärts. Er fühlte sich benommen, und es war eine beunruhigende Benommenheit, die nicht normal sein konnte.
Die Dornen waren mit Drogen präpariert gewesen. Sein erfahrener Geist überlegte schnell, welche Kräuter verwendet worden waren. Zu seiner Erleichterung waren keine davon tödlich. Sie sollten ihn nur kampfunfähig machen.
Broll spürte, wie seine Muskeln allmählich erschlafften. Er war halb bewusstlos, unfähig sich zu bewegen. Der Nachtelf nahm wieder seine wahre Gestalt an. Das brachte ihm jedoch keine Erleichterung.
Eine Hand packte ihn grob am Arm. Broll wurde auf den Rücken gewälzt. Durch seine verschwommenen Augen sah er mindestens vier Druiden, die sich über ihn beugten. Aber er konnte sie nicht genau erkennen.
„Jemand sollte Fandral Bescheid geben“, sprach einer von ihnen. „Jemand sollte ihm mitteilen, dass wir den Verräter geschnappt haben...“
22
Die Verderbten
Die Opfer von Sturmwind kamen immer näher. Lucan, Thura und der Major waren umzingelt von den verwahrlosten, schlafwandelnden Gestalten. Jede schrie irgendetwas über eine schreckliche Tat, für die irgendwie die drei verantwortlich sein sollten. Und sie alle bewegten sich trotz geschlossener Augen zielstrebig auf die drei Verteidiger zu.
„Was sollen wir tun?“, fragte Lucan.
„Wir bekämpfen sie!“, knurrte die Orcfrau mit der Axt in der Hand. „Wir bekämpfen sie, oder sie zerfetzen uns, du Narr!“
„Das sind Unschuldige!“, konterte Major Mattingly mahnend. „Würdest du sie auch töten, wenn sie von deinem Volk stammten?“
„Ja... weil es getan werden muss.“
Mattinglys Blick zeigte deutlich, dass er ihre Logik verstand. Dennoch schüttelte er den Kopf.
„Fuchsblut! Nehmt sie mit und seht nach, was mit den Nachtelfen geschehen ist“, befahl Mattingly schließlich.
„Aber dann seid Ihr hier nur noch ganz allein...“
Die beiden Menschen blickten einander einen Moment lang an. Lucan verstand schließlich. Mattingly wollte die unschuldigen Schlafwandler vor Thura bewahren, die sicherlich einen schrecklichen Blutzoll einfordern würde, bevor die Schlafwandler sie schließlich überwältigten. Der Major hoffte zudem offensichtlich auf ein Wunder von Tyrande und Broll.
„Komm!“, befahl der Kartograf der Orcfrau, genauso überrascht über den Befehlston in seiner Stimme wie sie. Thura folgte zögerlich, während der Major mit seinem Schwert über die kleiner werdende Lücke zwischen sich und den schlafwandelnden Einwohnern strich.
Doch kaum hatten sie das Gebäude betreten, als eine stämmige Gestalt Lucan mit seiner Axt angriff.
„Das ist mein Hof!“, rief der Mann. „Ihr werdet ihn nicht abbrennen!“
Die Axt wäre tief in Lucans Brust eingedrungen, hätte Thura nicht eingegriffen. Sie blockte den Schlag mit dem Schaft ihrer Waffe ab. Der Schlafwandler wandte sich ihr zu, seine geschlossenen Augen wirkten unheimlich. Die Wut auf seinem Gesicht war überwältigend.
Er hieb nach der Orckriegerin. Sie parierte den Angriff und schlug dann zurück.
„Nein!“, rief Lucan, doch sie war nicht mehr aufzuhalten.
Ihre magische Axt zog eine rote Linie über die Brust des Mannes, der die eigene Waffe fallen ließ und dann zu Boden stürzte.