Der Kartograf war wütend. „Er konnte nichts dafür!“
Thura wirkte nicht unglücklich über ihre Tat, doch sie fragte: „Was hättest du denn gemacht?“
Darauf wusste Lucan keine Antwort. Von oben erklangen Kampfgeräusche und weitere Schreie. Sie liefen hoch.
Dort trafen sie auf Tyrande, die mit einer wilden Kreatur kämpfte. Das konnte nur die Botschafterin der Nachtelfen sein. Lucan eilte der Priesterin zu Hilfe und wurde von einer Schattenkreatur angegriffen.
„Geh zu ihr“, brüllte Thura. Sie rannte an Lucan vorbei. Obwohl ihre Axt nicht an den Schatten heranreichte, wich er doch zurück.
Der Weg war frei, und der Kartograf gelangte zu Tyrande. Er packte die schreiende Gestalt am Arm, wodurch Tyrande sich besser konzentrieren konnte.
Die Hohepriesterin berührte die Schlafwandlerin an der Brust. Ein schwacher silberner Schein bedeckte die Haut.
Die Schlafwandlerin keuchte und fiel der Hohepriesterin in die Arme. Lucan und Tyrande legten sie sanft ab.
In dem Augenblick stieß die Orcfrau zu. Ihre Axt schnitt durch den Schatten, der zischte... und dann verschwand er.
Während es drinnen einen Moment der Ruhe gab, wurde es draußen immer hektischer. Die Schreie wurden lauter, schrecklicher. Einer erhob sich kurz über den Rest, bevor er abrupt abriss.
„Das war der Major!“, keuchte Lucan. Er versuchte zu einem Fenster zu gehen, doch Tyrande hielt ihn zurück.
„Es ist zu spät für ihn.“ Die Hohepriesterin blickte Lucan in die Augen. „Zu spät für so viele. Doch es gibt immer noch Hoffnung für Azeroth und Hoffnung für uns... wenn Ihr uns von hier fortbringt.“
Er nickte. „Ich kann nicht versprechen, dass wir nicht wieder bei diesem grünen Drachen enden...“
„Eranikus ist unser geringstes Problem – eigentlich ist Eranikus für niemanden ein Problem, außer für sich selbst.“
Lucan konzentrierte sich. Tyrande streckte die Hand nach Thura aus, die sie annahm.
Die Welt wurde plötzlich smaragdgrün.
Und dann noch dunkler. Von Wahnsinn kündende Schreie malträtierten ihre Ohren, und die Landschaft war mit dem vertrauten, abscheulichen Nebel bedeckt, in dem groteske Gestalten herumirrten. Schwindelgefühle überkamen sie, gesteigert von einer wachsenden Furcht und Orientierungslosigkeit, die alles andere als natürlich war.
Sie waren wieder im Albtraum.
„Nein...“, murmelte Lucan. „Lass mich...“
Der Schatten eines riesigen, skelettartigen Baumes erstreckte sich über sie, seine Silhouette war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen.
Seid willkommen..., erklang die schreckliche Stimme in ihren Köpfen. Und ein besonderes Willkommen an dich, Tyrande Wisperwind...
Die Hohepriesterin wurde totenbleich. Selbst die Orcfrau erschauderte unter dem Tonfall des Baumes.
„Nein...“ Tyrande schüttelte den Kopf. „Nein...“
Ja... o ja..., antwortete die Stimme.
„Denkt nach, Fandral, denkt nach!“, rief Malfurion. „Ist wirklich alles so, wie Ihr es haben wolltet? Habt Ihr Teldrassil erschaffen, um Euer Volk zu vernichten?“
„Ich zerstöre uns nicht, ich rette uns vor Euch und all denen, die unsere Welt verraten haben!“ Als er sprach, neigte Fandral seinen Kopf dem Schatten zu, den er für seinen Sohn hielt. Der wahnsinnige Erzdruide nickte, dann fügte er, an Malfurion gewandt, hinzu: „Ihr habt Euch gegen Teldrassils Geburt ausgesprochen! Ihr wusstet, dass er unser Volk wieder erstarken lassen, ihm zu dem Ruhm und der Unsterblichkeit verhelfen würde, die uns schon immer zustanden!“
Malfurion wich einer Blume aus, die vor ihm aufblühte. Es war eine schwarze Lilie, und daraus schossen weiße Pollen hervor. Er wusste nicht, was die Pollen anrichten würden, doch jede Pflanze, die vom Albtraum verderbt worden war, stellte eine Gefahr dar.
Die Pollen landeten vor ihm. Der Boden unter Malfurions Füßen brannte und zog sich zusammen.
Ein stechender Schmerz durchfuhr seine linke Hand. Ein einzelnes Korn war auf seinem Daumen gelandet. Und dieses eine Korn reichte aus, dass Malfurion vor Schmerz die Zähne zusammenbeißen musste. Hätten ihn Tausende getroffen...
Druck baute sich in seiner Brust auf. Malfurion fiel auf die Knie. Der Druck stieg an. Er konnte nicht mehr atmen.
Der Erzdruide überprüfte blitzschnell seinen Körper und suchte nach dem, was ihn angriff. Es war alles bislang viel zu leicht gewesen.
Der Pollen war eine List gewesen, wenngleich eine gefährliche. Zu spät erkannte Malfurion, dass Fandral einen subtileren Druidenangriff gewählt hatte. Während Malfurion der Lilie ausgewichen war, hatte er einige der kleinen Sporen eingeatmet. Sie erfüllten nun seine Lungen.
Doch wie er es auch mit dem Gift gemacht hatte – Gift, dessen Quelle er nun kannte -, zwang Malfurion die Sporen wieder aus seinem Körper heraus. Es war nicht so einfach und nicht etappenweise ausführbar, wie er es in der Gruft gemacht hatte. Diesmal musste er wirklich schnell handeln. Malfurion hustete heftig, schied so die Sporen aus und sandte sie zu ihrem Schöpfer zurück.
Ein kurzer Schwindelanfall überkam ihn, während dem Fandral ihn hätte angreifen können. Doch der musste gleichzeitig die unsichtbaren Sporen abwehren. Fandral vollführte eine Geste, und der Wind blies die Pollen fort.
Doch obwohl Malfurion für den Moment gerettet war, wusste er, dass jede Sekunde, die er gegen Fandral kämpfen musste, nur dem Albtraum in die Hände arbeitete. Fandral war verloren, sein Wahnsinn verzehrte ihn.
Es sei denn...
Mit nach oben geöffneten Handflächen konzentrierte sich Malfurion.
Stille senkte sich über die Enklave. Die Bäume regten sich nicht mehr, und auch die anderen Pflanzen wurden ruhig. Malfurion lächelte grimmig. Die Verderbtheit hatte Teldrassil befallen, doch nicht ganz Teldrassil war von ihr verzehrt worden. Er hatte die letzten noch reinen Überbleibsel angerufen, um den Baum daran zu erinnern, was er in Wirklichkeit war.
Doch kaum einen Atemzug später kehrte der Schrecken zurück. Fandral hielt die Arme ausgestreckt, und die Schatten standen an seiner Seite.
„Ich werde nicht zulassen, dass Ihr mir meinen Sohn wieder nehmt!“, brüllte er.
Malfurion achtete nicht mehr auf Fandrals wirre Worte. Er konzentrierte sich erneut, um die letzten Reste des Guten anzurufen, die noch in Teldrassil steckten. Es war nicht viel, die Verderbtheit war größer. Doch unter seiner Führung hielt das Gute zumindest einen winzigen Moment lang stand.
Und mehr brauchte Malfurion auch nicht.
Mittlerweile wurde jedoch nicht mehr nur die Enklave davon beeinflusse Malfurion strengte sich an, als er seinen Zauber über ganz Darnassus ausdehnte. Von überall dort kamen noch Schreie und Kampfeslärm. Aber stetig wurde der Widerstand geringer, und er spürte, dass sein Plan funktionierte.
Sein Körper und seine innerste Seele schmerzten. Malfurion bekämpfte nicht nur einen Feind, sondern zwei. Irgendwo tief im Weltenbaum steckte ein Teil des Albtraumlords, eine echte physische Präsenz. Er wollte sie suchen, sie bekämpfen. Doch solange war er Fandral wehrlos ausgeliefert.
Er strengte sich weiter an. Malfurion spürte, wie seine Kräfte schwanden. Fandral war zwar nicht stärker als er. Doch Malfurion versuchte gleichzeitig, auch noch die Bürger zu schützen.
Es muss bald geschehen! Sie müssen es verstehen!, dachte er.
Dann spürte er die Gegenwart der anderen Druiden in der Enklave. Und seine Hoffnung und Sorge stiegen gleichermaßen an. Ihre Reaktion würde den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmachen.
Fandral ließ im Angriff nach, hielt ihn nur aufrecht, um Malfurion weiter zu beschäftigen. Malfurion hatte so etwas vermutet. Er dagegen ließ die Hände sinken und beendete seinen Zauber.
Einen Augenblick lang war Fandral hin- und hergerissen, doch dann stellte auch er seinen Angriff ein. Jetzt war nicht die Zeit, sich als Aggressor zu beweisen. Sie wurden von den anderen Druiden beobachtet.
Die hochrangigen Erzdruiden versammelten sich um sie herum. Die meisten mit vorsichtigem oder unsicherem Blick. Malfurion blickte jeden Einzelnen an, ließ sie in seine Seele blicken. Er hatte nichts zu verbergen, Fandral schon.