„Die Verderbtheit, die sich durch Teldrassil ausgebreitet hat“, antwortete der Erzdruide schnell. „Aber das ist im Moment nicht so wichtig! Darnassus muss evakuiert werden! Der Weltenbaum hat sehr gelitten. Die abgebrochenen Äste, die hier herumliegen, sind nur ein Bruchteil von dem, was noch herunterfallen kann! Zu Eurer eigenen Sicherheit müsst Ihr alle fort von hier!“
Wie zur Bestätigung pflanzte sich ein weiteres Krachen durch Darnassus. Die Stadt erbebte. Teldrassil würde nicht fallen, doch für die Hauptstadt drohte dennoch Gefahr.
„Ich sorge dafür, dass es geschieht“, versprach Shandris.
„Ich kümmere mich um die Druiden“, sagte Malfurion, als sie sich trennten. „Vielleicht können sie es ja auffangen... aber ich kann nichts versprechen!“
„Verstanden!“
Ein Schmerzensschrei erklang aus der Ferne, die Stimme war voll des Verlustes. Doch der Schrei kam von keinem der Opfer, zu denen Malfurion gerade blickte, sondern aus einer völlig unerwarteten Richtung.
Er wandte sich der Enklave zu und stellte fest, dass die anderen Druiden bereits von dort forteilten. Broll führte sie an, Hamuul kam kurz dahinter.
Die Quelle des scheinbar nie endenden Schreis war Fandral. Der Erzdruide brüllte den Namen seines Sohnes immer und immer wieder. Er bettelte, Valstann möge zu ihm zurückkehren.
Zwei Druiden führten ihn an der Hand, als er hinter ihnen hertaumelte und den Namen seines Sohnes rief. Hinter ihnen bewachten Druiden eine kleine Gruppe... dazu gehörten einige Brüder, die ebenfalls Fandrals Wahnvorstellungen verfallen waren. Malfurion war klar, was mit ihnen geschehen musste. Auf der Mondlichtung gab es Orte, wo man die Kranken oder geistig Verwirrten unterbringen konnte. Für Fandrals Anhänger bestand Hoffnung, dass sie erlöst werden konnten.
Doch als er Valstanns Vater beobachtete, fragte sich Malfurion, ob es für Fandral selbst jemals Heilung geben würde. Zwischen dem Albtraum und seinem persönlichen Verlust zerrieben, wirkte der verrückte Erzdruide, als hätte er sich selbst für immer verloren.
Malfurion traf sich mit Broll und berichtete ihm, was er bereits Shandris mitgeteilt hatte. Broll nickte verstehend, seine Blicke verharrten auf dem grausigen Ast. Malfurion eröffnete ihm schließlich, was er herausgefunden hatte.
„Xavius...“ Broll sagte der Name nichts. Er hatte aber die große Wut und Furcht in der Stimme seines Shan’dos erkannt, als Malfurion von ihm sprach.
„Die Druiden müssen den Leuten beim Aufbruch helfen, dann werdet Ihr von mir hören. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Beeilt Euch.“
„Was wollt Ihr tun?“
Malfurion brach einen kleineren Ast nahe der Spitze ab. Die dickflüssige, widerliche Flüssigkeit tropfte daraus hervor.
„Was ich tun muss!“
Mit diesen Worten erschuf Malfurion schnell eine Fackel. Er verbarg das kleine Stück des Zweiges an seinem Körper und entflammte den restlichen Ast. Im selben Augenblick verbrannte er zu Asche, die Malfurion vom Wind wegtragen ließ.
„Seid bereit“, wandte er sich an Broll.
„Natürlich, Shan’do! Ich...“
Aber Malfurion hatte sich bereits verwandelt und war in den Himmel aufgestiegen.
Tyrande wusste, wer da sprach, auch wenn sie während ihrer früheren Begegnung bewusstlos gewesen war. Sie wusste es, weil Malfurion ihr später die fürchterliche Wahrheit enthüllt hatte... und auch, was er ihrem Entführer angetan hatte.
„Ihr könnt es nicht sein...“, murmelte sie abwehrend.
Der Schatten des riesigen skelettartigen Baumes legte sich über das Trio. Die Hohepriesterin spürte, wie sich ihre Brust verengte. Doch wenn sie mit ihrer Hand danach tastete, konnte sie nichts Festes fühlen. Tyrande bemerkte, dass Lucan und Thura dasselbe taten.
Ich bin es und werde es immer sein... Tyrande Wisperwind... Ich bin der Albtraum, und der Albtraum ist ich... Wir sind ewig... und bald schon wird Azeroth ein Teil von uns sein...
„Niemals!“ Sie betete zu Elune, und das Licht von Mutter Mond erfüllte sie. Tyrande konzentrierte das Licht augenblicklich auf den Schatten.
Im Licht schwand der Baum. Tyrande spürte, wie der Druck auf ihrer Brust nachließ.
Dann verdunkelte sich der Schatten erneut, trat deutlicher hervor. Die Hohepriesterin konnte nicht frei atmen. Sie mühte sich, um nicht umzufallen. Die anderen litten ebenso.
Das silbrige Licht schwand und hinterließ nur den widerlich grünen Schein des Albtraums... und den Schatten des Baumes, der einst der Nachtelf Xavius gewesen war.
Ich stehe nun über deiner kleinen Göttin... Ysera gehört mir, so wie ihre Schwester, die Lebensbinderin... Erkenne alle beide und erzittere angesichts deiner verlorenen Hoffnung...
Der Nebel teilte sich... und hinter dem Schatten erschien die Herrin des Smaragdgrünen Traums. Schattenranken, die ebenfalls von ihrem Entführer zu stammen schienen, fesselten sie. Yseras Kopf war gen Himmel gerichtet, als hielte sie nach etwas Ausschau, doch ihre Augen waren geschlossen. Jemand hatte ihre Flügel und Gliedmaßen gestreckt, was ihr sicherlich große Qualen bereitete.
Eine smaragdgrüne Aura ging von Ysera aus, doch nur wenige Zentimeter von ihr entfernt wurde sie zu dem widerlichen fauligen Grün des Albtraums. Es war nur zu klar, dass die Kraft des Aspekts nach Xavius’ Wünschen verkehrt worden war.
Und hinter ihr schwebte Alexstrasza. Ihre Augen starrten leblos geradeaus, und ihr Maul hing schlaff herab. Sie wirkte ausgetrocknet und mehr tot als lebendig. Ihre lebhafte rote Farbe war verblasst, und sie schien kaum noch zu atmen.
Der Nebel umgab die beiden großen Drachen wieder. Tyrande war erschüttert. Sie erinnerte sich, dass Alexstrasza in schrecklicher Gefahr gewesen war, als sie sie das letzte Mal gesehen hatte. Doch sie hatte geglaubt, dass der Aspekt irgendwie schon entkommen würde.
Tyrande hörte das Schlagen von Flügeln. Eine riesige grüne Gestalt schälte sich aus dem Nebel. Zuerst dachte Tyrande, dass Eranikus zu ihrer Rettung herbeigeeilt wäre. Doch dann landete der Drache zwischen dem Albtraumlord und den drei Gefangenen. Es war eine schreckliche Kreatur, deren Züge offenbarten, wie tief sie bereits korrumpiert worden war.
Lethon verneigte sich vor dem Baum. „Ich bin gekommen, wie du befohlen hast...“
Bereite sie vor... es ist bald so weit... und dann... wird der Sieg des Albtraums allumfassend sein...
Der grüne Drache grinste die drei böse an. „ Kommt, meine kleinen Lieblinge... Smariss wartet schon auf uns...“
Die Magie des Drachen trug sie fort.
Malfurion stieg in den Himmel empor, der nun über der Insel genauso nebelverhangen war wie überall sonst auch. Der Albtraumlord hatte keinen Grund mehr, Darnassus zu verschonen, nachdem Fandral verloren war.
Der Erzdruide flog eine Kurve. Teldrassil erstreckte sich unter ihm. Er konnte nicht die ganze Krone erkennen, doch er sah den zentralen Bereich, der sein Ziel war.
Mittlerweile sollten die Druiden bereit sein. Sie mussten bereit sein...
Hamuul... Broll... Obwohl er nur die beiden beim Namen nannte, berührte Malfurion danach den Geist jedes einzelnen Druiden um den Weltenbaum herum. Sie alle antworteten schnell.
Wir werden Teldrassil heilen, sagte er ihnen.
Viele waren verblüfft. Besonders jetzt, nach Fandrals Verrat. Doch weil sie Malfurion vertrauten, befolgten sie seine Anweisungen ohne zu zögern.
Malfurion stieß hinab und landete in der Mitte der Krone. Dort verwandelte er sich. Die Luft war hier kalt, weil er sich oberhalb der Wälder befand, die auf der Spitze wuchsen. Dennoch war der Erzdruide unbesorgt. Nur sein Plan war momentan von Bedeutung.
Der Erzdruide streckte die Hände aus, als wollte er die große Baumkrone komplett umfassen, und stärkte das Band mit der Hilfe der anderen Druiden.
Lasst uns das Leben von Azeroth dazu nutzen, die Verderbtheit auszumerzen...