Stammen die Legenden über die Vertreibung aus dem Garten Eden ebenfalls aus dieser Epoche, als der Nahe Osten langsam zu einer Wüste wurde? Da ihre zuvor von einem gemäßigten Klima begünstigte Welt nun unter der sengenden Sonne verdorrte, muss es den dort siedelnden Völkern tatsächlich so vorgekommen sein, als wären sie mit einem Feuerschwert aus einem Garten vertrieben worden.
Ist es möglich, dass der Mensch damals die Erkenntnis seiner selbst erlangte, »die Frucht vom verbotenen Baum«, die zur Entwicklung einer Zivilisation führen sollte? Dann müsste man sich allerdings fragen, wer die großen Skulpturen gemeißelt hat, wenn der Mensch noch nicht so weit entwickelt war. Statt diese Frage sofort zu beantworten, wollen wir uns noch etwas mit dem Voranschreiten der Tagundnachtgleichen befassen und uns die Epoche des nächsten Tierkreiszeichens ansehen, die des Krebses.
Mit The Golden Bough hat Sir James George Frazer eine bahnbrechende Studie der frühesten organisierten Religionen der Menschheit geschaffen. Seine tief schürfende Erforschung von Mythen, Gebräuchen, traditionellen Geschichten, antiker Literatur und archäologischen Funden führte ihn zu dem Schluss, dass sich in der vorgeschichtlichen Zeit nach und nach weltweit eine matriarchalische Religion durchsetzte, die die Schamanenkulte der frühesten Sammler und Jäger ablöste.
Spuren solch ursprünglichen Glaubens hielten sich noch in der griechischen und römischen Religion. Nehmen wir Athene, die Schutzpatronin von Athen, als Beispiel. Sie vereinte in sich die traditionellen drei Eigenschaften einer Gottheit: Weisheit, Mut und Kraft. Ihre Totemtiere waren zwar nicht mit denen des Sphinx identisch, aber die grundlegende Vorstellung von Drei in Einem war dieselbe. In Rom bildete die Göttin Vesta das Herzstück der Staatsreligion. Darin galt der Glaube: Sollte das heilige Feuer der Vesta jemals erlöschen, würde Rom untergehen. Eine Reflexion dieser großen Göttin hat sich bis in die heutige Zeit in der Form der Heiligen Jungfrau Maria gehalten, die in der ältesten christlichen Konfession, dem Katholizismus, eine nachhaltige und lebendige Verehrung erfährt.
Die Göttinnen von Griechenland und Rom, und in der heutigen Zeit die Jungfrau Maria, sind späte Manifestationen dieser antiken Religion, deren Ursprung laut Frazer in einer Zeit vor der Ausbreitung der ältesten bekannten Zivilisationen gelegen haben muss, als der Mensch den Zusammenhang zwischen Fortpflanzung und Geschlechtsverkehr noch nicht erkannt hatte. Hierzu führt Frazer aus, dass die frühesten religiösen Riten offenbar auf dem Glauben beruhten, dass der Einfluss des Mondes auf den weiblichen Zyklus der Grund für die Geburt von Kindern sei.
Interessanterweise erlebte diese Religion ihren Aufstieg unter dem Zeichen des Krebses, der zugleich auch das Zeichen der Muttergöttin war. So war es in der Zeit der Erbauung des Sphinx, als – zumindest im Nahen Osten – eine lange Periode des verhältnismäßig leichten Jagens und Sammelns zu Ende ging. Die Menschen mussten unter der nächsten Konstellation, der des Krebses, mit den Rudimenten einer Zivilisation einen Neuanfang wagen. In diesem Zeitalter entwickelten sich die erste universelle Religion und die Anbetung einer Göttin, die den Menschen Kinder schenkte, damit sie ihre Art erhalten konnten.
Von da an kann der Weg der Menschheit als langwieriges Kämpfen um ein kohärenteres Gottesbild angesehen werden, als wäre sie unter dem Zeichen des Löwen erwacht, um zunächst ihre Stärke zu beweisen und sich dann auf eine weite Entdeckungsreise zu begeben.
Im nächsten Zeitalter – Zwillinge – setzte die schriftlich erfasste Geschichte ein. So, wie sich in diesem Abschnitt die Religionen entwickelten, begriff nun die Menschheit allmählich den Zusammenhang zwischen Sexualität und Schwangerschaft. Männliche Gottheiten tauchten auf, und matriarchalische Religionsformen begannen ihren Rückzug auf einige wenige Gebiete wie Sumer, wo sie immerhin noch bis zum Beginn der nächsten Epoche eine führende Rolle spielten. Im Bewusstsein der Menschen brach freilich die Zeit der mächtigen Götter an, und die größten darunter waren die der Ägypter. Darüber hinaus setzte sich eine neue Form der Religionsausübung durch. Wir beteten unsere Götter nicht nur an, sondern lernten auch, nach ihren Lehren zu leben, wie sie in den Mythen vermittelt wurden.
Zu den frühesten dieser Mythen gehört die Sage von Isis und Osiris, die noch in der Vorstellung vom Weiblichen als dem Leben Spendenden und Wiedererweckenden wurzelte. Osiris, Isis’ Bruder, wurde von Seth aus Eifersucht getötet und zerstückelt, doch Isis konnte die Teile wieder zusammenfügen und Osiris ein neues Leben geben. Diese Vorstellung ist in der gesamten historischen Zeit bis hin zum Neuen Testament erhalten geblieben, wo sie heute noch als Wiederauferstehung Christi den Kern des Christentums bildet.
Die Legende von Isis und Osiris markierte das Ende des Zeitalters der Zwillinge: Der von den Toten auferweckte Gott der archaischen Sammler und Jäger, die vor der Epoche des Krebses die Erde besiedelt hatten, setzte sich nun immer mehr durch. Unter dem darauf folgenden Zeichen – Stier – drängten die männlichen Götter die weiblichen noch weiter zurück, wurden aber gleichzeitig durch in den Jahrtausenden erhalten gebliebene Elemente des Matriarchats im Zaum gehalten. In dieser Epoche, etwa 4000 v. Chr. hielten die Sumerer ihr Gilgamesch-Epos zum ersten Mal schriftlich fest.
Seit der Ära des Löwen war dies auch das erste Zeitalter, aus dem wieder Spuren vorliegen, die einen Zusammenhang zwischen dem Tierkreiszeichen und dem Weltbild einer Kultur nahe legen. In diesem Fall sind das keine Monumente, sondern die Integration von Stiersymbolen in die sich entwickelnden Glaubensformen.
Die Stiersymbolik hielt sich bis ins erste Millennium der nächsten Periode – Widder. Viele der alten Göttinnen wurden mit einem Stier als Gemahl dargestellt, so zum Beispiel die sumerische Göttin Inanna und die griechische Europa. Und die Frau des legendären kretischen Königs Minos, Pasiphaë, verliebte sich in den Stier des Gottes Poseidon. In seinem Buch Mythologie der Urvölker vertritt Joseph Campbell die Ansicht, dass die Stiersymbolik in der frühen Bronzezeit aufgetaucht sei (während des Übergangs von Stier zu Widder) und sich von Indien bis nach England ausgebreitet habe.
Aus dieser Epoche sind viele Stierstatuen erhalten geblieben. Die meisten stellen zufrieden dreinblickende Tiere dar – ein weiterer Hinweis darauf, dass Stiergottheiten als Gemahle von Göttinnen angesehen wurden. Das markanteste Beispiel dafür ist die große Skulptur im Manjor-Tempel in Indien. In der dort vorherrschenden Religion, dem Hinduismus, stellte man sich Krishna, den höchsten Gott, zugleich als Gott-Menschen und als Verkörperung des Zeitalters des Stiers vor. Seine mythologischen Helferinnen sind in Nordindien als Gopis, Kuhhirtinnen, bekannt. Ein Relikt aus diesem Zeitalter, der Glaube an Kühe als heilige Wesen, hat sich im Hinduismus bis heute gehalten.
Die nächsten Tierkreiszeichen sind Widder und Fische. Letzteres wird im Abendland mit zentralen religiösen Symbolen verbunden, während das Alte Testament mehr Bezüge zu Widdern enthält (insgesamt 55) als zu jedem anderen Tier. Nun, das Alte Testament entstand unter diesem Sternbild und stellt auf einer seiner Ebenen die Ablösung der alten Göttin durch einen neuen männlichen Gott dar.
Dieser Prozess begann viel früher mit einer Serie von Invasionen, als Stämme aus dem Norden mit ausschließlich männlichen Göttern nach Süden ins Mittelmeergebiet und ins Indus-Tal vordrangen. Damit fand die Ära der Interimskönige ein Ende, die eine kurze Zeit regieren durften, ehe sie von Priesterinnen in Kulthandlungen geopfert wurden. Den Übergang bezeichnete Joseph Campbell in seinem Buch Mythologie des Westens als gesellschaftliches Trauma: Der Widder trampelte den alten Stier buchstäblich zu Tode. Gottheiten aus dem Zeitalter des Stiers, wie etwa Kali, die als segensreich gegolten hatte, oder Medusa, der man ursprünglich eine liebevolle Natur zugeschrieben hatte, verwandelten sich nun in wahre Monster.