Mein Ehemann George war in Honolulu aufgehalten worden. Als er nach Nahala zurückkehrte, erwartete ich ihn dort schon. Und er umarmte mich feierlich, drückte mir einen flüchtigen Kuß auf die Lippen, besah sich besorgt meine Zunge, war unzufrieden mit meinem Aussehen und Gesundheitszustand und schickte mich mit heißen Ofenplatten und einer Dosis Rizinusöl ins Bett. Als würde ich in ein Uhrwerk geraten, zu einem jener Zähne oder Räder werden, die sich unvermeidlich und unbarmherzig drehen, so kehrte ich wieder in das graue Leben von Nahala zurück. Jeden Morgen um halb fünf war George aus dem Bett und um fünf Uhr bereits aus dem Haus und auf seinem Pferd. Es gab den ewigen Haferbrei, den scheußlichen billigen Kaffee und frisches Rindfleisch und Dörrfleisch und wieder frisches Rindfleisch und Dörrfleisch. Ich kochte und buk und schrubbte. Ich kurbelte an der verrückten Nähmaschine und schneiderte meine billigen Holokus. Abend für Abend, zwei Jahre lang, die mir wie endlose Jahrhunderte erschienen, saß ich ihm gegenüber am Tisch bis acht Uhr, stopfte seine billigen Socken und die schäbige Unterwäsche, während er die Jahre alten, geliehenen Zeitschriften las, die er aus Sparsamkeit nicht selbst abonnierte. Und dann war Schlafenszeit - es durfte kein Petroleum verschwendet werden -, und er drehte seine Uhr auf, trug das Wetter in sein Tagebuch ein, zog sich die Schuhe aus, den rechten zuerst, und stellte sie in der gleichen Reihenfolge nebeneinander an sein Bettende.
Doch von meiner Zuneigung zu Ehemann George, die sich langsam zu entwickeln schien, ehe Prinzessin Lihue mich zu der Reise eingeladen und Onkel John mir das Pferd geliehen hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Du siehst, Schwester Martha, es wäre nichts geschehen, hätte Onkel John mir das Pferd nicht gegeben. Aber ich hatte die Liebe, hatte Lilolilo kennengelernt; und welche Chance hätte danach noch Ehemann George gehabt, aus lauter Achtung oder Zuneigung mein Herz zu gewinnen? Und zwei Jahre lang war ich auf Nahala eine Tote, die irgendwie ging und sprach, buk und schrubbte, Socken stopfte und Petroleum sparte. Die Ärzte sagten, das schäbige Unterzeug, in dem er wie immer in den winterlichen Regenstürmen oben in den Bergen nach den Wasseradern von Nahala forschte, hätte ihn das Leben gekostet.
Als er starb, war ich nicht traurig. Ich war schon so lange traurig gewesen. Aber froh war ich auch nicht. Meine Freude war in Hilo gestorben, als Lilolilo meinen Ilima-Lei ins Meer geworfen hatte, und nie mehr sollte ich vollkommenes Glück empfinden. Lilolilo starb keine vier Wochen nach Georges Tod. Nach unserem Abschied in Hilo hatte ich ihn nie wiedergesehen. Ach ja, Verehrer habe ich seither genug gehabt
- aber ich war wie Onkel John. Lieben konnte ich nur einmal. Onkel John hatte seinen Naomi-Raum in Kilohana. Mein Lilolilo-Raum war fünfzig Jahre lang in meinem Herzen. Du bist die erste, Schwester Martha, der ich zu diesem Raum Zutritt gewährt habe.«
Ein Wagen kam die Auffahrt entlang, und aus ihm stieg Marthas Ehemann und überquerte den Rasen. Aufrecht, schlank, grauhaarig, mit elegantem, militärischem Auftreten war Roscoe Scandwell einer der »Großen Fünf«, deren Interessengemeinschaft das Schicksal ganz Hawaiis bestimmte. Selbst ein reinblütiger, in Neuengland geborener Haole, küßte er zuerst Bella und schloß sie nach hawaiischer Art dabei herzlich in die Arme. Sein wacher Blick sagte ihm, daß die beiden Frauen sich etwas anvertraut hatten und daß trotz der offensichtlichen Gefühlsaufwallung dank der Weisheit ihres Alters wieder Ruhe und Gelassenheit eingekehrt waren.
»Elsie und die Kleinen sind unterwegs - ich habe gerade ein Funktelegramm vom Dampfer bekommen«, verkündete er, nachdem er seine Frau geküßt hatte. »Und sie werden einige Tage bei uns bleiben, bevor sie nach Maui Weiterreisen.«
»Ich wollte dir eigentlich das Rosenzimmer geben, Schwester Bella«, überlegte Martha Scandwell laut. »Aber es eignet sich besser für sie und die Kinder mit ihren Kindermädchen und allem, was dazugehört. Deshalb sollst du das Königin-Emma-Zimmer bekommen.«
»Das hatte ich auch schon beim letztenmal, es ist mir sowieso lieber«, sagte Bella.
Roscoe Scandwell, mit der hawaiischen Liebe und den liebevollen Umgangsformen vertraut, schritt aufrecht, schlank und würdevoll, je einen Arm um ihre üppigen Taillen gelegt, zwischen den beiden edlen Frauengestalten auf das Haus zu.
ALS ALICE ZUR BEICHTE GING
Diese Geschichte von Alice Akana hat sich auf Hawaii zugetragen, nicht heute, sondern in jenen noch gar nicht so fernen Tagen, als der berühmte Erweckungsprediger Abel Ah Yo Alice Akana dazu brachte, sich alles von der Seele zu reden. Und was Alice beichtete, war selbst ein Stück Geschichte, das die ältere Generation einholte.
Denn Alice war fünfzig Jahre alt, war früh ins Erwachsenenleben eingetreten und hatte es, zu Beginn und auch später, ausgiebig genossen. Ihr Wissen reichte zurück bis zu den Ursprüngen von Familien, Geschäften und Plantagen. Sie war eine Art wandelndes Archiv und wurde von den Anwälten konsultiert, ob es sich nun um Grundstücksgrenzen und Landschenkungen oder um Heiraten, Geburten, Hinterlassenschaften oder Skandale handelte. Da sie ihre Zunge im Zaum hielt, verriet sie ihnen nur selten das Gewünschte; und wenn sie es wirklich tat, dann nur, wenn es der Gerechtigkeit diente und niemandem dadurch ein Schaden entstand.
Denn Alice hatte seit ihrer frühen Mädchenzeit ein Leben voller Blumen, Gesang, Wein und Tanz geführt; und in ihren späteren Jahren war sie selbst kraft ihres Amtes als Leiterin des Hula-Hauses Herrscherin über diese Lustbarkeiten gewesen. In solch einer Atmosphäre, wo die Gesetze Gottes und der Menschen sowie der Vorsicht keine Anwendung finden und wo sich benebelte Zungen lösen, eignete sie sich ihr Wissen über Dinge an, über die sonst nicht einmal getuschelt wurde und von denen kaum jemand etwas ahnte. Obwohl den alteingesessenen Bewohnern klar war, daß sie alles wissen mußte, hütete sie ihre Zunge so gut, daß niemand sie je über die Zeiten von Kalakauas Bootshaus oder über die Gelage mit den Offizieren der hier anlegenden Kriegsschiffe, mit den Diplomaten, Ministern und Anwälten aus aller Herren Länder hatte klatschen hören.
So war Alice Akana mit fünfzig Jahren - vollgestopft mit historischem Sprengstoff, der, wenn er je zur Explosion käme, ausreichen würde, um das Gesellschafts- und Geschäftsleben der Inseln von Grund auf zu erschüttern -, die Leiterin des Hula-Hauses, die Geschäftsführerin der Tänzerinnen, die vor fürstlichen Persönlichkeiten, bei Luaus, Hausfesten, Poi-Abendessen und für neugierige Touristen tanzten, und sie war immer noch verschwiegen. Außerdem war sie mit ihren Fünfzig gesund und drall, dazu klein und beleibt nach Art der polynesischen Bauern, mit einer körperlichen Konstitution ohne organische Verschleißerscheinungen, die noch viele weitere Jahre versprach. Doch ausgerechnet mit Fünfzig verirrte sie sich, eher durch Zufall und aus Neugier, in Abel Ah Yos Erweckungsversammlung.
Nun war Abel Ah Yo, was seine Theologie und seine Wortgewandtheit betraf, eine ebenso vielschichtige Persönlichkeit wie Billy Sunday. Sein Stammbaum war noch weit vielschichtiger, denn er war zu einem Viertel Portugiese, einem Viertel Schotte, einem Viertel Hawaiianer und einem Viertel Chinese. Das religiöse Feuer, das in ihm brannte, loderte heißer und farbenfroher, als es eine einzige seiner vier Rassen entfacht haben könnte. Denn in ihm vereinten sich Umsicht und Schlauheit, Mutterwitz und Weisheit, Feinsinn und Ungehobeltes, Leidenschaft und Philosophie, der verzweifelt nach Erkenntnis ringende Geist und das bis zu den Knien im Morast der Realität steckende Allzumenschliche der vier grundverschiedenen Rassen, aus denen sich seine Person zusammensetzte. Dazu besaß er noch die dieser ganzen adretten Mischung innewohnende Gabe der Selbsttäuschung.