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Ich streiche mir ein Brot mit Butter, bestreue es mit Salz und Paprika, bevor ich ins Bett gehe, esse ich immer etwas, und während dem Kauen überlege ich, ob ich noch eine Schachtel auspacken soll, und zu den Menschen, die ich von meinem Küchenfenster aus täglich sehe, gehört die Frau vom schräg gegenüberliegenden Haus, ich nenne sie meine bleiche Heldin, eine zierliche Frau, die immer etwas tut, putzen, waschen, kochen, Wäsche aufhängen, und jetzt, da es merkwürdig still ist (eine Sülle, die ich der Strasse nicht abnehme, vermutlich, weil mein Ohr das Anfahren, Abbremsen, Hupen, Quietschen immer noch hört), bügelt sie in ihrer Küche, und die zeitlose Müdigkeit in ihrem Gesicht, egal, was sie tut; ich stehe auf, öffne eine Schachtel (höchstens zwei Schachteln pro Woche auszupacken, das habe ich mir vorgenommen), und zuoberst liegt der gelbe Briefumschlag, in dem ich meine Fotos aufbewahre; ich, die Fotos nie einkleben oder einrahmen wollte, suche ein paar heraus, befestige sie mit Stecknadeln über dem Kopfende meines Bettes, ich, die kein bestimmtes Ordnungsprinzip hat, achte nur darauf, dass die Fotos sich berühren, und als ich vierzehn war, habe ich angefangen, Fotos zu sammeln, die meine Eltern weggeworfen hätten, "Ausschuss" steht auf dem gelben Briefumschlag, angeschnittene Köpfe, Fotos ohne erkennbare Sujets, und ein verwackeltes Foto mit starkem Gelbstich, das ich besonders gern mag: Nomi und ich, wie wir uns gerade wegdrehen (ein plötzlicher Windstoss, der uns Sand ins Gesicht wehte), unsere Körperhaltung, die eine abrupte Bewegung erahnen lässt; vor allem aber erinnert mich das Foto daran, wie wir mit Sand in Augen, Nase, Mund gelacht haben, endlos lange.

Ich setze mich aufs Bett, esse noch ein Butterbrot, nicke ein, mit den neu aufgehängten Bildern über meinem Bett, ich wache auf, höre Laurent immer noch spielen, schlafe wieder ein.

Wir haben die Rollen getauscht, du hast früher nie verschlafen, sagte Nomi, nachdem sie an Allerheiligen heftig gegen mein Fenster geklopft hat, ich aufgeschreckt bin, mit verklebten Augen das Fenster geöffnet habe, wieso hast du nicht geklingelt? Habe ich, antwortete Nomi, aber du hast offenbar nichts gehört, ich, die rasch einen Pullover anzieht, eine Hose, öffne die Tür, fahre mir kurz durch die Haare, bevor Nomi und ich uns umarmen, komm rein, und wir setzen uns in die Küche, hier, das ist von Mutter, und Nomi langt in ihre Tasche, saure Gurken, Paprikawürste, Knoblauchspeck, Suppennudeln, Akazienhonig, Mohn- und Quarkstrudel, alles andere habe ich zu Hause gelassen und Mami damit vertröstet, dass ich dich ja bald wieder besuche, wie geht es dir, fragt Nomi. Meine Zunge schläft noch, antworte ich, Kaffee ist keiner mehr da, ich mache mich ein bisschen frisch, und wir gehen ins Cafe hier um die Ecke, in Ordnung?

El Zac, so heisst das Cafe und wird von einem spanischen Ehepaar und ihren drei Kindern geführt; Nomi und ich, wir stehen im Eingang, verständigen uns wortlos darüber, wo noch die besten freien Plätze sind, wir setzen uns hin, bestellen zwei doppelte Espressi, inspizieren den Raum, die Möblierung, unsere Blicke wandern zur Kaffeemaschine, eine Kolbenmaschine, kein Automat! innerhalb kürzester Zeit wissen wir, ob die Lüftung gut ist, was alles auf der Speise- und Getränkekarte steht, hast du gesehen, wie viel der Cappuccino kostet, ja, fünfzig Rappen teurer als bei uns; und natürlich testen wir, ob der Kaffee schmeckt und wenn ja, wer der Lieferant ist — wir tauchen ein in eine Welt, die wir seit langem miteinander teilen — bist du jetzt wach, fragt Nomi, als wir ausgetrunken und bezahlt haben, ja! und wir stehen auf, winken dem Ehepaar noch zu, und vor der Tür bleiben wir kurz stehen, um einen Blick auf die Öffnungszeiten zu werfen, die haben einen langen Tag, sagen wir, die Miete, wahrscheinlich zu hoch! Nomi und ich, wir gehen los, überqueren die Weststrasse, schauen uns das Schaufenster einer Glaserei an, sind verblüfft darüber, wie waghalsig die zerbrechlichen Waren ausgestellt sind, der Besitzer ist wahrscheinlich ein ehemaliger Seiltänzer, sage ich, und wir gehen weiter, und ich zeige Nomi, was ich im Quartier schon entdeckt habe, den schönen Kindergarten, den Antiquitäten-Laden am Idaplatz, der von einem mürrischen, freundlichen Tschechen geführt wird, den Quartier-Bio-Laden, der alles hat, obwohl er so winzig ist, und im Blumenladen an der Bertastrasse kaufen wir einen Strauss Herbstblumen, wir gehen weiter die Bertastrasse hoch, ich zeige rechts zum Schulhaus Ämtler, wo an Wahlsonntagen die Abstimmungsurnen aufgestellt sind, und Nomi bleibt einen Moment lang stehen, schaut in den Novemberhimmel, ein blauer Novembertag, sagt sie, eine schöne Ausnahme, und wir gehen weiter, an japanischen Kirschbäumen vorbei, biegen dann rechts in die Goldbrunnenstrasse, und nach ein paar Schritten sind wir da, wo wir hinwollten.

Ich wäre nie darauf gekommen, Nomi, die mich angerufen hat, um mir zu sagen, dass sie mich an Allerheiligen abhole, ihr Freund habe ihr erzählt, auf dem Friedhof Sihlfeld gebe es ein Gemeinschaftsgrab, und da, quasi bei der WG unter den Gräbern, könnten wir doch zusammen Blumen hinlegen für unsere Toten; statt diesem Tag ständig aus dem Weg zu gehen, könnten wir ihm doch wieder die Bedeutung geben, die er hat, ausserdem wussten wir ja nicht, wie lange es noch dauert, bis wir wieder in die Vojvodina zurückkönnen, und ich, die den Hörer in der Hand hielt, im ersten Moment gar nicht wusste, ob ich Nomi richtig verstanden hatte, hast du gehört?

Wir sind durch den Friedhof Sihlfeld gegangen, der so schön ist, weil er ungewöhnlich gross und weit ist, wir haben Bäume bewundert, die Platz haben zum Wachsen, riesige Eichen und Platanen, alle Arten von Kastanien, die bereits ganz nackt waren, eine zierliche Birkenallee, sogar Ginkgos haben wir entdeckt, deren gelb-goldene Blätter den Kiesweg säumten; bis wir vor dem Gemeinschaftsgrab standen, haben wir die wundersamen, farbigen Wesen gesammelt, die gerade dann von den Bäumen fallen, wenn sie am Schönsten sind, und wir legten sie mit den Blumen auf das Grab; an diesem blauen Novembertag dachten wir an unsere Verstorbenen, Grosstanten und Grossonkel, an unsere Grosseltern, die wir nie kennengelernt haben, Mutters Mutter und Papuci, für Sie, Mamika, haben wir ein Lied gesungen, und in Ihrem Namen haben wir darum gebeten, dass die Lebenden nicht vor ihrer Zeit sterben.