Natürlich gab Proudmoore nicht auf, sondern folgte ihr durch die klapprige Holztür. »Magna, Ihr...«
Sie standen jetzt in dem Raum, den Aegwynn scherzhaft das Wohnzimmer nannte. Es war zugleich der einzige Raum in der Hütte und diente auch als Schlafstube, Küche und Esszimmer. Aegwynn rief erbost: »Hört auf, mich so zu nennen. Ich bin keine Magierin mehr. Ich bin auch kein Held, und ich will Euch nicht in meinem Haus haben. Ihr sagtet, dass ich Frauen den Weg zum Magiersein geebnet hätte. Wenn ich mir überhaupt etwas anrechnen darf, dann ist es, der beste Grund zu sein, warum Frauen niemals Magierinnen werden sollten.«
»Ihr liegt falsch«, sagte Proudmoore. »Es ist, weil Ihr...«
Aegwynn presste ihre Hände auf die Ohren und sagte: »Um Himmels willen, würdet Ihr bitte damit aufhören?«
Ruhig antwortete Proudmoore: »Ich sage nichts, was Ihr nicht schon wüsstet. Wenn Ihr nicht gewesen wärt, wären die Dämonen schon viel früher gekommen, und wir...«
»Und welchen Unterschied genau hätte das ausgemacht?« Aegwynn lächelte das Mädchen hohntriefend an. »Die Dämonen kamen trotzdem, und Lordaeron wurde trotzdem zerstört, der Lich-König regiert immer noch, und Sargeras hat immer noch gewonnen.«
Proudmoore zuckte bei der Erwähnung des Lich-Königs aus irgendeinem Grund zusammen. Aber Aegwynn interessierte das Warum nicht. Das Mädchen antwortete: »Ihr könnt Eure Beteiligung leugnen, so lange Ihr wollt, aber das ändert gar nichts. Ihr wart eine Inspiration für alle...«
Sie lächelte. »Für alle ,kleinen Mädchen', die Magierinnen werden wollten. In der Zitadelle war meine Lieblingsgeschichte immer die, wie Ihr von Scavell als erster weiblicher Wächter auserwählt wurdet. Dem ersten Magier, der den Wert weiblicher Schüler erkannt hat – und wie die Wächter von Tirisfal die Wahl begrüßt haben, und...«
Aegwynn musste lachen. Sie lachte lang und laut. Sie hatte sogar Schwierigkeiten, Luft zu bekommen vor lauter Prusten. Sie fing an zu husten, bekam sich aber wenig später wieder unter Kontrolle. Nach tausend Jahren begann ihr Körper jetzt zu altern, aber sie hatte immer noch genug Lebenskraft, um sich von ein bisschen Gelächter nicht umwerfen zu lassen.
Genau genommen war es der beste Lacher, der seit Jahrhunderten aus ihr herausgebrochen war.
Proudmoore schaute wie jemand, der in eine Zitrone gebissen hatte. Ihr Gesicht war wutverzerrt. »Ich verstehe nicht, was daran so komisch sein soll.«
»Natürlich nicht.« Aegwynn lachte und atmete ein paar Mal tief ein und aus. »Wenn Ihr all den Müll glaubt, der über mich kursiert, seid Ihr selber schuld.« Sie tat einen weiteren Atemzug, der sich in ein Seufzen verwandelte. »Nun, wenn Ihr wahrhaftig darauf besteht, in meine Privatsphäre einzudringen, Lady Jaina Proudmoore aus der ach so noblen Stadt Theramore, dann setzt Euch.« Sie wies auf den geflochtenen Stuhl, für dessen Herstellung sie das gesamte dritte Jahr ihres Exils geopfert hatte, sich aber nach seiner Fertigstellung weigerte, je darauf Platz zu nehmen.
»Setzt Euch, und ich werde Euch die wahre Geschichte erzählen, wie ich zur Wächterin von Tirisfal wurde... und warum ich die Letzte bin, die Ihr als irgendeine Art von Heldin feiern solltet...«
Zum ersten Mal seit Jahren jagte Tirisfal Aegwynn Angst ein. Die Wälder nördlich der Hauptstadt von Lordaeron waren immer ein Ort der Schönheit und Ruhe gewesen, fern vom Alltag. Ihre Mutter hatte sie das erste Mal auf einem Ausflug hierher mitgenommen, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. Die kleine Aegwynn hatte die Landschaft gleichzeitig als erschreckend und faszinierend empfunden. Sie war überrascht, dass die Tiere frei herumliefen, war fasziniert von der unglaublichen Farbenpracht der Vegetation und begeistert, wie viele Sterne sie des Nachts sehen konnte, weit weg von den Lichtern der Stadt.
Im Laufe der Zeit war die Angst verschwunden. Sie wich Freude, Verwunderung und immer wieder Erleichterung.
Bis heute. Heute war die Angst mit aller Macht zurückgekehrt.
Seit ihrer Kindheit war sie eine Schülerin des Zauberers Scavell, zusammen mit vier anderen, die aber natürlich Jungen waren. Aegwynn wollte schon immer Magierin werden, aber ihre Eltern hatten ihr stets gesagt, dass sie irgendwann irgendjemandes Frau werden würde. Und dass ihr Herumspielen mit Kräutern im Augenblick noch in Ordnung sei. Aber bald schon würde sie wichtigere Dinge lernen – wie Nähen und Kochen...
Diese Predigten ließ sie so lange über sich ergehen, bis sie Scavell traf und er sie bat, seine Schülerin zu werden. Dabei machte er deutlich, dass er ein Nein als Antwort nicht akzeptieren würde. Ihre Eltern jammerten, sie würden ihr kleines Mädchen verlieren. Aber Aegwynn war begeistert. Aus ihr würde eine Magierin werden!
Damals gab es nur drei andere Schüler: Falric, Jonas und Manfred. Sie waren genauso merkwürdig wie alle anderen Knaben, die Aegwynn kannte, aber immerhin ein wenig erträglicher. Der vierte, Natale, stieß erst ein Jahr später zu ihnen.
Heute Morgen hatte Scavell verkündet, dass er Mitglied eines geheimen Ordens wäre, den man die Wächter von Tirisfal nannte. Aegwynns erste Assoziation, die sie damit verknüpfte, war, dass der Wald, den sie so liebte, danach benannt worden war. Aber es stellte sich heraus, dass es genau umgekehrt war. Sie nannten sich so, weil sie sich schon seit vielen Jahrhunderten auf dieser Lichtung trafen. Das erstaunte Aegwynn, weil sie nie solche Treffen bemerkt hatte, obwohl sie seit Jahren regelmäßig Ausflüge in die Glades unternahm.
Dann hatte Scavell ihnen erklärt, dass sie nun in die Glades gehen würden, um die Tirisfalen zu treffen.
Die Knaben unterhielten sich über Geheimgesellschaften und wie aufregend das alles war. Als wenn es sich um eine Art Abenteuer gehandelt hätte. Aber Aegwynn blieb still. Sie wollte genau wissen, was diese Tirisfalen darstellten. Scavell blieb äußerst vage in diesem Punkt. Während die Knaben auf Scavells Wort vertrauten, wollte Aegwynn mehr wissen.
»Das wirst du schon noch früh genug herausbekommen, mein Mädchen,« hatte Scavell auf ihre Frage geantwortet. Er nannte sie immer »mein Mädchen«.
Als Scavell sie in die Glades brachte, war Aegwynn verwirrt, weil sich niemand auf der Lichtung befand. Doch nur Augenblicke später, gerade als sie Scavell fragen wollte, was denn nun sei, gab es einen Lichtblitz. Danach wurden sie, Scavell und ihre Mitschüler von sieben Gestalten umstanden – in einem perfekten Kreis. Drei waren Menschen, drei waren Elfen, und einer war ein Gnom. Alle waren Männer.
»Wir haben gewählt«, sagte einer der Elfen.
Falric echote: »Gewählt?«
Der Gnom antwortete: »Schweig, Junge, das wirst du schon bald selbst herausfinden.«
Der Elf wandte sich an Scavell. »Du hast alle fünf Schüler gut ausgebildet, Magna Scavell.«
Aegwynn runzelte die Stirn, sie hatte diese Ehrenbezeichnung noch nie zuvor gehört.
»Trotz allem gibt es einen Schüler, der aus den anderen hervorsticht. Ein Schüler hat sich auf den wissbegierigen Wegen der Magie bewiesen – was über normale Neugierde weit hinausgeht. Einer hat eine Begabung beim Wirken von Zaubern gezeigt, die ohne Gleichen ist, und er hat sogar schon die Schriftrollen des Meitre gemeistert.«
Jetzt raste Aegwynns Herz. Der Nachtelf Meitre war ein großer Zauberer gewesen, der vor vielen tausend Jahren gelebt hatte. Elfenmagier versuchten sich nicht vor dem letzten Jahr ihrer Ausbildung an Meitres Sprüchen. Und Menschenmagier versuchten es während ihrer Ausbildung oft überhaupt nicht. Aegwynn aber beherrschte Meitres Sprüche schon seit Ende ihres ersten Jahres.
Sie hatte es in aller Heimlichkeit getan. Scavell hatte darauf bestanden, weil es sonst »die Knaben ärgern würde«.
Falric schaute seine Mitschüler der Reihe nach an. »Wer beherrscht Meitres Sprüche?«
Mit einem Grinsen sagte Aegwynn triumphierend: »Ich.«
»Wer hat dir das erlaubt?«, fragte Manfred ärgerlich.