»Macht Euch doch nicht selbst so nieder.« Jaina konnte es nicht fassen. Schlimm genug, dass die größte Zauberin der Welt, die Frau, die sie Zeit ihres Lebens verehrt hatte, sich als eine dermaßen unfreundliche Person entpuppte. Aber jetzt benahm sie sich auch noch einfach völlig... verblendet. »Wir sprechen hier von Sargeras. Jeder Magier hätte den Fehler gemacht, den Ihr begangen habt. Wie Ihr schon sagtet, er war ein Gott. Er wusste, dass er Euch in Anbetracht Eurer Macht und der ihm drohenden Gefahr austricksen musste. Und er wusste, wie man Euch manipulieren konnte. Was Ihr getan habt, war nur natürlich.«
Aegwynn starrte in eine der Ecken der baufälligen Hütte, die sie offenbar ihr Heim nannte.
»Ich habe viel, viel mehr als das getan. Da war auch noch Medivh.«
Jetzt war Jaina noch verwirrter. »Ich kannte Medivh, Magna. Er war...«
Aegwynn wirbelte herum, sah Jaina an und fauchte: »Ich spreche nicht davon, was mein Sohn war. Ich spreche davon, wie er war.«
»Was meint Ihr damit?« Jaina Verwirrung stieg. »Medivh wurde von Nielas Aran gezeugt, und...«
»Gezeugt?« Aegwynn machte ein Geräusch, das wie berstender Fels klang. »Das ist ein vielleicht doch etwas zu weit hergeholter Begriff dafür...«
Der Ruf war dieses Mal drängend, was der einzige Grund war, weshalb Aegwynn darauf reagierte. Die Wächter von Tirisfal hatten sich mit der Zeit verändert. Die drei Elfen waren dieselben geblieben, aber die Menschen und der Gnom waren allesamt gestorben und ersetzt worden – und auch deren Nachfolger starben und hatten ihrerseits Nachfolger. In mancherlei Hinsicht aber hatten sie sich rein gar nicht verändert. Doch anstatt sich mit ihnen oder mit einem Schüler abzugeben, hatte Aegwynn ihre Magie dafür benutzt, um ihr Leben zu verlängern. So konnte sie ihr Wächter-Amt immer noch versehen.
Einmal wäre sie beinahe gestorben, als sie gerade auf einer Balkonbrüstung in Lordaeron gestanden hatte und einen Zauber wirkte. Damit hatte sie einen von Sargeras früheren Sklaven ausfindig machen wollen, der sich irgendwo in der Nähe aufhalten sollte. Mitten in der Beschwörung hatte der Rat sie mit einem so drängenden Ruf zu sich zitiert, dass sie fast die Balance verloren hätte. Es war der dritte Ruf in ebenso vielen Tagen gewesen, aber der erste, der zu einer solchen Beeinträchtigung ihrer Fähigkeiten geführt hatte.
Sie erkannte, dass es nicht aufhören würde, wenn sie nicht endlich darauf reagierte. Deshalb teleportierte sie sich nach Tirisfal Glade. Sie stand auf dem Felsen, den Falric, der schon vor langer Zeit gestorben war – genauso wie die drei anderen Schüler und alle im Kampf gegen Dämonen – in Falschgold verwandelt hatte. Die Zeit hatte ihn verwittern lassen. Ein dumpfes Braun ersetzte den hellen Goldton, den der Stein achthundert Jahre zuvor noch hatte.
»Was ist so wichtig, um mich in meiner Arbeit zu unterbrechen?«
»Die dauert jetzt schon acht Jahrhunderte, Aegwynn«, sagte einer der nachgerückten Menschen. Aegwynn hatte sich nie die Mühe gemacht, sich seinen Namen zu merken. »Es ist höchste Zeit, dass Ihr Eure Aufgaben abgebt.«
Aegwynn richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, was sie größer als jeden Mann auf der Lichtung machte, und erwiderte: »Korrekterweise werde ich mit ,Magna' angeredet. Das ist nur eine dieser lächerlichen Formalitäten, auf die Ihr besteht und der magischen Welt aufzwingt.«
Das Wort war zwergischen Ursprungs, bedeutete »Beschützer« und stellte die Ehrenbezeichnung für jeden Wächter dar. Aegwynn kümmerte sich nicht um Titel, aber weil der Rat auch sonst auf allen Regeln und Regularien bestand, fand sie es nur recht und billig, solche Dinge anzumahnen – zumindest in der gereizten Verfassung, in der sie gerade war.
Relfthra rief: »Ach, auf einmal klebt Ihr an Bestimmungen, wie?«
Der Mensch warf Relfthra einen Blick zu und sagte dann: »Der Punkt, Magna, ist, dass Ihr Euch der Risiken Eurer Arbeit ebenso bewusst seid wie wir. Je öfter Ihr Euer Leben verlängert, desto größer wird das Risiko, dass es schief geht. Die Verjüngungsmagie ist keine exakte Wissenschaft und noch weniger ist sie verlässlich. Es kann jederzeit mitten in einem Kampf oder beim Wirken eines Zaubers passieren, dass man plötzlich auf sein tatsächliches Alter zurückgeworfen wird. Wenn das passiert, ohne dass ein Nachfolger bestimmt wurde...«
Aegwynn hob die Hand. Das Letzte, was sie brauchen konnte, war eine Lektion in Sachen Magie. Sie war eine stärkere Zauberin als alle anderen zusammen. Hatten sie Sargeras persönlich gegenübergestanden?
»Sehr gut. Ich werde also einen Nachfolger finden und die Macht des Wächters an diese Person übertragen.«
Der Mensch widersprach mit drohendem Unterton: »Wir werden Euren Nachfolger aussuchen, so wie wir es auch bei Scavell taten. Und bei jedem Wächter davor.«
»Falsch. Ich werde die Wahl treffen. Ich glaube, ich weiß besser als irgendein anderer, worauf es ankommt, um ein Wächter zu sein. Auf jeden Fall weiß ich es besser als ihr alle, die ihr hier auf dieser Lichtung steht und nur Reden schwingt, während andere die Drecksarbeit erledigen.«
»Magna...«, begann der Mensch, aber Aegwynn wollte nichts mehr hören.
»Ich habe Euren Rat gehört, und zum ersten Mal ist er es wert, ihm Beachtung zu schenken.« Sie lächelte. »Ich nehme an, es musste ja mal passieren. Selbst ein Dorftrottel mag ab und zu über wertvolle Ideen stolpern. Wenn mein Nachfolger gefunden ist, werdet ihr von mir informiert. Das ist alles.«
Ohne darauf zu warten, entlassen zu werden, teleportierte sie zurück auf die Balkonbrüstung, wo der Ruf sie ereilt hatte. Auch wenn der Hinweis des Rates tatsächlich vernünftig war, musste sie doch immer noch in erster Linie ihre Pflicht erfüllen.
Sie sprach noch einmal den Suchzauber, um zu überprüfen, ob wirklich ein Dämon Lordaeron unsicher machte. Aber es stellte sich heraus, dass kein solcher hinter den aktuellen Geschehnissen steckte, nur ein paar Halbwüchsige, die mit Magie herumspielten. Hätten sie weitergemacht, wäre der Dämon vielleicht gerufen worden, aber Aegwynn kam den Bemühungen der Unwissenden zuvor.
Danach reiste sie nach Stormwind ins Haus von Nielas Aran.
Aran war schon seit vielen Jahren einer ihrer Verehrer. Aegwynn schenkte ihm kaum Aufmerksamkeit, obwohl er über mehr Talent verfügte als die meisten anderen Magier, die zu den Tirisfalen gehörten. Glücklicherweise teilte er die Vorurteile des Rates nicht und beherrschte – als Hofmagier von König Landan Wrynn – sein Handwerk hervorragend. Wäre sie mehrere Jahrhunderte jünger gewesen, hätte sie vielleicht die stahlblauen Augen, seine breiten Schultern und sein angenehmes Lachen mehr geschätzt.
Aber sie war nicht mehrere Jahrhunderte jünger und hatte deshalb weder Lust noch Verlangen, auch nur sein Interesse an ihr anzuerkennen. Sie hatte zahlreiche Liebschaften in ihren jüngeren Tagen gehabt, angefangen bei Jonas, aber sie hatte schon lange die Geduld dafür verloren.
Nach achthundert Jahren war für sie Romantik nur eine Anhäufung von Täuschungen und Tricks, auf die sie mittlerweile keine Zeit mehr verwenden wollte.
Aber immer noch konnte sie ihren Charme einsetzen, den sie als Halbwüchsige zuerst an Jonas erprobt hatte, und so begann sie, mit Aran zu flirten. Urplötzlich war sie von seinen Hobbys fasziniert und teilte sein Interesse für zwergische Musik. All das diente nur einem einzigen Zweck – und lief darauf hinaus, dass er das Bett mit ihr teilte.
Am nächsten Morgen wusste sie, das sie schwanger geworden war. Sie war ein wenig niedergeschlagen, als sie erkannte, dass die Frucht in ihrem Leib zu einem männlichen Kind heranwachsen würde, denn insgeheim hatte sie auf eine Tochter gehofft – als weiteren Dorn im Auge des Rates. Aber nichtsdestotrotz würde dieser Junge den Zweck erfüllen, für den er gedacht war.