Aber Thrall war einzigartig unter den Orcs. In ihrer Seele waren die Orcs unzivilisierte Bestien, kaum in der Lage, sich zu artikulieren. Ihre Sitten und Gebräuche waren barbarisch, ihr Verhalten inakzeptabel. Ja, Thrall hatte sie auf Linie gehalten und dabei das genutzt, was er in seiner Zeit gelernt hatte, als er unter Menschen aufgewachsen war. Dadurch hatte er ihnen etwas Zivilisation beigebracht.
Doch Thrall würde nicht ewig leben. Wenn er starb, würde mit ihm auch der Flirt der Orcs mit den Menschen enden. Sie würden wieder zu den bösartigen Tieren degenerieren, die sie waren, als Sargeras sie erstmals hierher brachte.
Doch Lady Proudmoore würde diese Worte nicht hören wollen. Kristoff hatte es versucht, aber auch die größten Anführer konnten blind für gewisse Dinge sein, und dies war eben ihre Schwäche. Sie glaubte so fest daran, dass die Orcs in Frieden mit den Menschen leben konnten, dass sie ihren eigenen Vater verraten hatte.
An diesem Punkt hatte Kristoff erkannt, dass er zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen musste. Die Lady ließ eher ihren eigenen Vater töten, als das Vertrauen der Kreaturen zu enttäuschen, die, mit Ausnahme von Thrall, ihr diesen Gefallen niemals vergelten würden.
Unter anderen Umständen hätte Kristoff niemals getan, was er jetzt tat. Jeden Tag wachte er auf und fragte sich, ob er den richtigen Weg verfolgte. Aber jeden Tag wachte er auch in Furcht auf. Vom ersten Moment an, da er nach Kalimdor gekommen war, vom Ende des Krieges bis hin zur Gründung von Theramore, lebte Kristoff in der fürchterlichen Panik, dass alles, was sie aufgebaut hatten, zerstört werden könnte. Mit Ausnahme des kleinen Forts an der Handelsküste reduzierte sich die menschliche Präsenz in Kalimdor auf eine kleine Insel vor der östlichen Küste, auf drei Seiten von Kreaturen umgeben, die ihnen im besten Fall gleichgültig gesinnt waren – und im schlimmsten feindlich. Auf der vierten Seite begrenzte die Große See ihr Hoheitsgebiet.
Trotz seiner Ängste und trotz seines lautstarken Rates, bevorteilte die Lady die Orcs ständig – zum Schaden der Menschen. Sie bezeichnete es als Glücksfall für die Allianz, und dass sie verbündet stärker seien als getrennt. Das wahrhaft Tragische daran war, dass sie dies auch glaubte.
Aber Kristoff wusste es besser. Und als sich Lady Proudmoore als unfähig erwies, die Gesamtsituation zu erfassen, das große Bild, das Kristoff sein ganzes Leben lang bemüht war zu erkennen, holte er sich Hilfe von außen.
Duree streckte ihre verschrumpelte Hand in die Kammer.
»Sir, der magische Stein von Northwatch glüht. Ich glaube, er hat eine Botschaft.«
Trocken versetzte Kristoff: »Das bedeutet es für gewöhnlich, ja.« Er stand vom Tisch der Lady auf und ging hinaus in den Thronsaal, wo der Stein aufbewahrt wurde. Vermutlich war das entweder Lorena oder Davin, die ihn darüber unterrichten wollten, dass der Oberst endlich eingetroffen war. Ihre Truppen waren an diesem Morgen angekommen.
Kristoffs Plan, Lorena bereits dort zu haben, wenn der Truppentransport eintraf, war von mechanischen Problemen am Luftschiff vereitelt worden. Der Start hatte sich verzögert. Außerdem war der Truppentransporter durch starke Winde früher als erwartet eingetroffen.
Als er zu dem Stein ging, der auf einem Podest in der südwestlichen Ecke des Thronsaals ruhte, sah Kristoff, dass er tatsächlich rot leuchtete. Was darauf hinwies, dass sein Gegenpart in Northwatch aktiviert worden war.
Einen Moment zögerte er, dann ergriff er den Stein. Wie erwartet schoss ein schmerzhafter Schock durch seinen Arm, der ihn fast zwang, den Stein wieder fallen zu lassen. Das Leuchten verschwand jedoch ebenso wie der Schmerz, und dann folgte Major Davins Stimme. Es klang, als würde Davin aus einer Höhle heraus brüllen.
»Lord Kämmerer, es ist meine traurige Pflicht, Euch davon in Kenntnis zu setzen, dass sich Oberst Lorenas Luftschiff noch nicht gemeldet hat. Beobachter sahen das Luftschiff, doch es fuhr Richtung Nordosten. Die Truppen sind angekommen, aber ich weiß nicht, was der Oberst mit ihnen vorhatte. Bitte gebt mir Anweisungen.«
Kristoff seufzte, als er den Stein zurück auf das Podest legte. »Verdammt sei diese Frau!«
»Welche Frau?«, fragte Duree.
»Oberst Lorena. Wen hat sie im Luftschiff mitgenommen?«
Ohne zögern kramte die alte Frau die Antwort aus ihrem Gedächtnis. So sonderbar ihre Manieren auch sein mochten, so unglaublich effizient war sie. »Major Bek, Captain Harcort, Captain Mirra und Lieutenant Norjo. Oh, und Corporal Booraven.«
Kristoff runzelte die Stirn, »Warum hat sie einen Korporal mitgenommen?« Er hatte klar angeordnet, dass nur die ranghöheren Offiziere auf dem Luftschiff mitfahren und die gemeinen Truppen im Boot nachkommen sollten. Langsam bahnte sich die Erinnerung den Weg in sein Hirn. »Ich kenne den Namen von irgendwoher.«
Duree, Gott schütze sie, eilte ihm zu Hilfe. »Das ist die, die man damals im Krieg den Glücksbringer nannte. Eine Sensitive, wenn ich mich recht erinnere, kann Magie auf hundert Schritte riechen.«
»Richtig, genau.« Kristoff erinnerte sich, dass die Booraven, die während des Krieges Gefreiter gewesen war, nicht nur in der Lage war, Dämonen aufzuspüren, die mit bloßem Auge nicht gesehen wurden, sondern auch herauszufinden im Stande war, ob jemand von einem Mitglied der Brennenden Legion besessen war. Sie besaß außerdem die Fähigkeit, auch Lady Proudmoore oder jeden anderen Zauberer ausfindig zu machen. Davon hatten mehrere Generäle Gebrauch gemacht, wenn die Lady schwierig aufzuspüren gewesen war.
Sofort erkannte Kristoff, was Lorena vorhatte. »Verdammt sei sie!« Er seufzte und murmelte: »Und verdammt sei auch ich!«
»Was ist los, Sir?«, fragte Duree.
»Nichts«, sagte Kristoff schnell. Er konnte es sich nicht leisten, die Zofe ins Vertrauen zu ziehen. »Das wäre dann alles.«
Verwirrt erwiderte Duree: »In... Ordnung, Sir.« Mit einem merkwürdigen Blick verließ sie den Thronsaal.
Kristoff starrte aus dem großen Fenster. Es war heute diesig, und er konnte nicht mehr als eine Meile oder zwei auf die Große See hinausschauen.
Nachträglich erkannte Kristoff, dass der Fehler wirklich bei ihm lag. Er hatte es zugelassen, dass die Feindseligkeit des Oberst – die immer da gewesen war und noch in Kriegstage zurückreichte – seine Reaktionen ihr gegenüber beeinflusste.
Er behandelte sie mit der gleichen Geringschätzung, mit der sie ihn behandelte. Eine Schwäche, die akzeptabel war, wenngleich manchmal auch kontraproduktiv, wenn sie beide die Lady berieten. Selbstmörderisch wurde es jedoch, wenn er, wie gegenwärtig, auf ihrem Thron saß. Teil des Symbolismus des erhabenen Thrones war, dass der Anführer über allem anderen zu stehen hatte. Einschließlich der kleinen Rivalitäten bei Hofe.
Dieselbe Arroganz, die in Garithos und so vielen vor ihm gewirkt hatte, steckte auch in Kristoff. Hätte der Kämmerer Lorena mit Respekt behandelt, hätte sie vielleicht das getan, was er befohlen hatte. Aber weil er es versäumt hatte, nahm sie Booraven mit, um wieder einmal Lady Proudmoore zu suchen. Das erklärte auch, warum sie nord-östlich flog, nach Durotar, wo die Lady sich um die Donnerechsen kümmerte.
So sehr es ihn auch ärgerte, blieb ihm doch nur eine Möglichkeit. Der Plan musste fortgesetzt werden, wenn auch mit kleinen Änderungen. Die würden später Probleme verursachen, aber bis dahin würden die Würfel gefallen sein. Es war der einzige Weg, damit Jaina Proudmoore erkannte, dass man den Orcs nicht trauen konnte. Der ohnehin unausweichliche Krieg mit ihnen musste beschleunigt herbeigeführt werden!
Am Ende nahm er den Stein wieder auf, diesmal mit beiden Händen, was der Stein als Verlangen verstand, eine Botschaft zu senden. Diesmal glühte er blau. »Hier ist Kämmerer Kristoff. Ich fürchte, unsere schlimmsten Befürchtungen haben sich bestätigt. Lady Proudmoore und Oberst Lorena wurden von einem Orc-Kult namens Flammendes Schwert gefangen genommen. Die Orcs müssen dafür bezahlen. Major Davin, Ihr übernehmt das Kommando über alle Truppen in Northwatch und bereitet Euch auf die Schlacht vor.«