»Hör auf, dich zu verstellen, Sargeras«, sagte sie. »Hör auf, mit der Stimme meines Sohnes zu sprechen.«
Medivh warf seinen Kopf zurück und lachte. »Verstehst du nicht, kleines Mädchen? Ich bin dein Sohn!« Er hob seine Hand. »Und ich bin dein Ende.«
Was als Nächstes folgte, passierte viel schneller, als Aegwynn es erwartet hatte. Sie erinnerte sich kaum an die Details, was vielleicht eine Gnade war. Alles, was sie sicher wusste, war, dass sie es schwerer und schwerer hatte, Medivhs – oder besser Sargeras – Sprüche zu kontern, und dass es ihm leichter und leichter bei den ihren fiel.
Geschwächt, zerschunden, blutend brach Aegwynn auf dem Boden zusammen, kaum mehr fähig, den Kopf zu heben. Ihr Sohn stand über ihr und lachte. »Warum schaust du so traurig, Mutter? Ich bin genauso, wie du mich gemacht hast. Immerhin hast du mich geboren, um den Rat zu überlisten und dein Erbe fortzuführen. Das hast du getan. Von dem Augenblick an, da du Sargeras physische Form zerstört und ihn so befreit hattest, dass er in dir leben konnte, war es dein Schicksal, Sargeras Willen zu erfüllen. Nun hast du deinen Zweck erfüllt.« Er grinste. »Ein letzter Dolchstoß in das Auge des Rates, eh?«
Aegwynns Blut gefror zu Eis. Das waren ihre eigenen Gedanken bei Medivhs Empfängnis gewesen. Sie hatte diesen Satz nie laut ausgesprochen und ganz sicherlich niemals gegenüber Medivh. Sie war tatsächlich nur wenig präsent in seinem Leben gewesen. Am Anfang vielleicht und da hauptsächlich zu seinem eigenen Schutz. Sie hatte es sich nicht leisten können, dass bekannt wurde, dass ihr Sohn in Stormwind lebte. Ihre Feinde hätten das gegen sie eingesetzt. Sie offenbarte ihm erst, dass sie seine Mutter war, als er die Pubertät beendet hatte.
In diesem Moment ließ sie jeden Widerstand fallen. Sie wollte nicht länger in einer Welt leben, die sie so nachhaltig betrogen hatte. In ihrem Eifer, ihre Bestimmung zu erfüllen, dem Rat zu beweisen, dass er einen Fehler beging, wenn er sie absetzte, hatte sie den Dämonen zum Sieg verholfen.
Seit dem Ende ihrer Ausbildung hatte Aegwynn nicht mehr geweint. Die Geburt ihres Kindes, der Tod der Eltern, die Niederlagen gegen Dämonen... nichts davon hatte sie zum Weinen gebracht. Sie war immer stärker als das alles gewesen. Doch jetzt rannen Tränen über ihre Wangen, als sie ihren Sohn ansah, der angesichts ihrer Qual lachte.
»Töte mich.«
»Und dich so vom Haken lassen? Sei keine Närrin, Mutter. Ich sagte, das ist dein Ende, nicht dein Tod. Dir das Sterben zu erlauben, wäre keine Buße für das, was du mir alles angetan hast.« Dann murmelte er eine Beschwörung.
Vor acht Jahrhunderten hatte ihr der Rat die Macht der Wächter verliehen. Das war die wunderbarste Erfahrung in ihrem Leben gewesen. Es war so, wie es für einen Blinden sein musste, das erste Mal zu sehen. Als sie die Macht an Medivh übergab, war es weniger wundervoll, aber es gab immer noch das Gefühl der Befriedigung. Das Schwinden ihrer Kräfte war leicht und angenehm gewesen, wie das allmähliche Hinübergleiten in den Schlaf.
Doch jetzt wurde ihr die Macht von Medivh herausgerissen. Es fühlte sich an, wie blind, taub und stumm geschlagen zu werden. Ihr gesamter Körper wurde abgetötet. Es war weniger wie einschlafen, mehr wie ein ins Koma fallen.
Aber sie blieb wach und bekam mit, was passierte. Dann erkannte sie, dass, wenn sie bleiben würde, Medivh, oder eher Sargeras, sie hier behalten würde. Sie müsste in den Gewölben der Burg hausen, ohne Zweifel, um alles, was geschehen würde, sehen und hören zu können. Aufmerksam gemacht auf jede böse Tat, die ihr Sohn in Sargeras Namen beging.
Sie erkannte noch etwas anderes. Sie war immer noch jung. Das bedeutete, dass Medivh ihr nicht die Verjüngungsmagie genommen hatte.
Das war ihre Rettung. Sie sammelte die verbliebenen Reste ihrer Konzentration und entfesselte die Magie der Verjüngungsmagie. Sie griff danach, formte und erschuf daraus einen Teleportspruch, der sie von hier fortbringen würde.
Augenblicke später, ihr Haar war weiß geworden, ihre Haut runzelig und ihre Knochen brüchig, fand sie sich auf Kalimdor wieder, an der Ostküste des Kontinents, in einer grasreichen Region in den Bergen.
Proudmoores Stimme war gefasst, als sie sagte: »Das muss schrecklich für Euch gewesen sein.«
»Das war es.« Aegwynn schauderte. In Wahrheit war es noch schlimmer gewesen. Aber sie hatte nur die Höhepunkte erzählt, um Proudmoore zu schonen. Sie hatte ursprünglich versucht, mit Medivh zu reden, um eine Erklärung von ihm zu erhalten, warum er tat, was er tat. Als ob Sargeras tatsächlich einen Grund gebraucht hätte. Aber sie sah keine Veranlassung, Proudmoore mit so etwas zu belasten.
Die vorrangigste Absicht der Geschichte war, ihr den ganzen Umfang ihrer Dummheit zu offenbaren. Sie fuhr fort: »Als ich herkam, nutzte ich das bisschen Magie, das ich noch besaß, um festzustellen, dass niemand außer mir in der Gegend war. Ich baute meine Hütte, bepflanzte meinen Garten, grub meinen Brunnen. Die Barrieren stellte ich nicht auf, bevor Thrall und seine Leute hier in der Nähe siedelten.«
»Ich bin nicht überrascht.« Da war ein merkwürdiger Tonfall in Proudmoores Stimme. Als ob sie etwas wusste, wovon Aegwynn nichts ahnte.
»Was soll das heißen?«
Bevor Proudmoore antworten konnte, hörte Aegwynn etwas. Proudmoore vernahm es auch, und beide drehten sich um, blickten nach Süden. Es klang vertraut, aber Aegwynn hatte das Geräusch seit Jahren nicht mehr gehört.
Augenblicke später wurde ihr Verdacht bestätigt: Das Geräusch wurde von einem gewaltigen Luftschiff verursacht, das nun um die Bladescar-Spitze herumkam. Es stoppte direkt vor den Barrieren und schwebte auf der Stelle. Aegwynn vermutete, dass sich ein Magier oder zumindest jemand an Bord befand, der Zauberei erkennen konnte.
Eine Strickleiter fiel vom Unterbau, und eine Gestalt im Brustpanzer begann hinabzuklettern. Als sie näher kam, erkannte Aegwynn die Abzeichen eines Oberst.
Zu ihrem Schrecken war die Gestalt eine Menschenfrau. Sie drehte sich um und schaute Proudmoore fragend an.
Das Mädchen lächelte. »Wenn eine Frau Wächter von Tirisfal werden kann, warum dann nicht auch Oberst?«
Darauf konnte Aegwynn nichts erwidern.
»Milady«, sagte die Frau, nachdem sie von der unteren Sprosse der Leiter gesprungen war. »Ich fürchte, ich bringe schlechte Neuigkeiten.« Dann sah sie fragend zu Aegwynn.
»Oberst Lorena, dies ist Magna Aegwynn. Ihr dürft mit ihr so offen sprechen, wie mit mir.«
Der Oberst nickte und begann mit ihrem Rapport. Augenscheinlich reichte diesem Oberst das Wort von Jaina Proudmoore. Aegwynn erkannte widerwillig an, dass sie beeindruckt war. Eine Frau stieg nicht in solche Positionen auf, ohne große Leistungen. Sie vermutete, dass Lorena doppelt so gut war wie jeder männliche Oberst, einfach, weil sie es sein musste, um sich durchzusetzen. Wenn jemand dermaßen Talentiertes Proudmoore so bedingungslos vertraute, dann war sie ein noch bemerkenswerterer Mensch, als Aegwynn es sich zunächst hatte eingestehen wollen.
Vielleicht gab es ja doch noch etwas Verehrungswürdiges an dem Helden des Mädchens.
Lorena sagte: »Ma'am, ich bin mir sicher, dass Kämmerer Kristoff ein Anhänger des Flammenden Schwerts ist. Er hat unsere Truppen in der Feste Northwatch verstärkt, um die Orcs zu provozieren.«
Die Züge Proudmoores entgleisten. »Kristoff? Das glaube ich nicht.«
Aber der Oberst verbrachte die nächste Minuten damit zu erklären, was in Proudmoores Abwesenheit in Theramore passiert war.
Als sie geendet hatte, fragte Aegwynn: »Wann hat das mit dem Flammenden Schwert angefangen?«
»Wir sind uns nicht sicher«, sagte Proudmoore. »Wir denken, dass es mit einem ehemaligen Orc-Clan zusammenhängt. Warum?«
»Weil Zmoldor einen Kult gegründet hat, der das Flammende Schwert genannt wurde. Das Schwert, das er benutzte, um die Kinder zu opfern, war mit Öl überzogen und wurde angezündet, sobald die Opferung begann. Da Zmoldor in der Gegend ist, ist es möglich, dass er auch etwas mit diesen Orcs zu tun hat.«