Obwohl sie in den letzten vier Jahren nicht annähernd so viel zurückerhalten hatte, konnte sie vielleicht doch schaffen, was notwendig war. Und wenn es nicht funktionierte, nun gut, sie hatte fast tausend Jahre gelebt, und wie Lorena es so klug ausgeführt hatte, war das deutlich länger, als die meisten Menschen auf Erden wandelten.
Schweiß rann über Jainas Gesicht. Sie kniete immer noch da, die Fäuste geballt und auf ihren Fersen sitzend. Aegwynn konnte den Spruch spüren, den sie selbst erdacht hatte, und kämpfte gleichzeitig darum, den Block zu überwinden, den die Zauberer errichtet hatten.
An Jainas Seite ergriff Aegwynn die linke Faust der jungen Frau mit ihren beiden Händen. Sie schloss die Augen, sammelte ihre Gedanken, ihre Kraft, ihre ganze Lebensessenz. Sie fokussierte und kanalisierte die Energie in ihre Arme... dann in ihre Unterarme... ihre Hände... Und schließlich in Jaina.
Urplötzlich überkam sie eine tiefe Müdigkeit. Ihre Knochen fühlten sich schwer an, ihre Muskeln schmerzten, als wären sie ein langes Rennen gelaufen, und ihr Atem kam in kurzen Stößen. Aegwynn ignorierte das alles und bündelte weiter jede verfügbare Energie. Ihr Leben, ihre Magie, selbst ihre Seele leitete sie in Jaina Proudmoore.
Jaina öffnete ihre Augen. Normalerweise von eisigem Blau, leuchteten sie nun feurig rot.
Nein!
Fast gleichzeitig mit diesem gedanklichen Schrei antworteten Jaina und Aegwynn lapidar: »O doch!«
Ihr könnte das Flammende Schwert nicht aufhalten. Wir werden siegen, alles zerstören, was sich uns in den Weg stellt, und dann werden wir – aaarrrrgghhhhhhhhh...!
Zmoldors Brüllen hallte nicht nur von den Wänden wider, sondern strömte auch aus den Mündern der Zauberer, die den Schmerz durch das Band, das sie mit dem Dämon einte, ebenfalls spürten. Obwohl Aegwynn ihn aus dem Blickfeld verlor, sah sie in ihren Gedanken, wie sich Zmoldors hässlicher Körper wand und drehte und aufbäumte. Gelber Eiter spritzte aus schwärenden Wunden, die wenig später vollends aufbrachen.
Wind kam auf- STURM! –, als der Zauber, den Aegwynn ersonnen und gewirkt hatte, die Luftmassen auseinander riss und ein Tor zum Wirbelnden Nichts öffnete, das augenblicklich an Zmoldors Körper zerrte.
Neeeeiiin! Ich lasse mich nicht wieder einsperr...
Die Schreie des Dämons endeten wie abgeschnitten, als sein Kopf eingesogen wurde. Die Rufe der Zauberer aber erklangen weiter, selbst als der Boden unter Aegwynns Füßen anfing zu beben.
Schließlich erstarben auch sie, nachdem die Handlanger des Dämons ins Wirbelnde Nichts gezogen worden waren, wo sie Qualen würden erleiden müssen, die um ein Vielfaches schlimmer waren als alles, was sie den Bewohnern Kalimdors hatten antun wollen.
Der Riss schloss sich, aber die Höhle erzitterte noch immer unter den freigesetzten Kräften.
Lorena erkannte das Offensichtliche mit soldatischem Pragmatismus und rief: »Wir müssen hier raus! Sofort!«
Aber Aegwynn war nicht in der Lage, sich von der Stelle zu bewegen. Ihre Arme und Beine wogen schwer wie Blei, und es kostete sie schon all ihre Kraft, wenigstens die Augen offen zu halten.
Einer der Stalaktiten löste sich mit einem Geräusch wie Donnergrollen von der Höhlendecke und schlug unmittelbar neben der Stelle zu Boden, wo Aegwynn und Jaina knieten.
Aegwynn hörte noch, wie Jaina einen Fluchtzauber wob.
Dann wurde sie ohnmächtig.
Epilog
Wieder einmal stand Jaina Proudmoore auf dem Hügel nahe Razor Hill und blickte nach Durotar. Es dauerte nicht lange, bis sie das tiefe, gleichmäßige Rumpeln vernahm, das die Ankunft von Thralls Luftschiff ankündigte. Diesmal kam der Kriegshäuptling in der Begleitung von Wachen, die größtenteils auf der Transportplattform blieben, während er die Strickleiter hinunterkletterte, um Jaina zu begrüßen. Ein Krieger, den Jaina nicht erkannte, wich nicht von seiner Seite und blieb mit bereit gehaltener Axt hinter Thrall stehen.
Ironisch lächelnd sagte Jaina: »Vertraust du mir nicht, Thrall?«
Thrall erwiderte das Lächeln warm. »Mein engster Berater hat mich verraten, Jaina. Ich denke, es ist das Beste, wenn ich allzeit bin, einen zweiten Vertrauensbruch zu verhindern. Es ist immer gut, jemanden zu haben, der einem den Rücken frei hält.«
»Das klingt weise und vorausschauend.« Sie nickte.
»Ist die Bedrohung wirklich vorbei?«
Jaina hob die Hände. »Es scheint so. Zmoldor und die Zauberer sind ins Wirbelnde Nichts verbannt worden. Selbst die Brennende Legion hätte ihre Mühe, sie zu befreien. Und ein so niederer Dämon wäre der Mühe sicher nicht wert.«
»Gut gemacht. Ich wünschte nur, es wäre gelungen, bevor Blut vergossen wurde.« Thralls fasste an seinen Gürtel, an dem ein Talisman hing, der ein von flammenumlodertes Schwert darstellte. Jaina nahm an, dass er Burx gehört hatte, dem Berater, der mit Zmoldor verbündet gewesen war. Genau wie Kristoff.
Laut Major Davins Rapport, der zusammen mit dessen Rücktrittsgesuch eingetroffen war, hatte Thrall Burx vor einer großen Menge von Orc- und Trollkriegern getötet, weil der mit dem Flammenden Schwert paktiert hatte.
Jaina seufzte. »Wir hatten sehr viel Glück, Thrall. Zmoldor mag dafür verantwortlich gewesen sein, aber er hat nur Hass benutzt, der schon vorhanden war. Schau, wie wenig dein Volk und das meine gebraucht haben, um sich gegenseitig bei Northwatch die Schädel einzuschlagen.«
»Das stimmt. Es war für unsere Völker um einiges einfacher zusammenzuarbeiten, als wir noch einen gemeinsamen Gegner hatten – die Brennende Legion. Jetzt hingegen...« Seine Stimme erstarb.
Eine Weile senkte sich Stille über sie, dann fuhr Jaina fort zu sprechen. »Wie ich schon sagte, wenn die Krise vorbei ist, sollten wir über ein Bündnis zwischen unseren Völkern verhandeln.«
Thrall machte eine Geste uneingeschränkter Zustimmung. »Du hast Recht. Die Allianz muss uns beide überleben. Es gibt keine Alternative, wenn Menschen und Orcs überleben wollen. Deshalb müssen wir unseren Pakt besiegeln.«
»Ich schlage vor, wir treffen uns in einer Woche in Ratchet. Es ist ein neutraler Hafen, dort können wir die Details ausarbeiten.« Sie blickte ihn an, erwartete seine Antwort.
»Akzeptiert. Ich werde Kalthar mitbringen. Er ist der Weiseste von uns.«
Jaina konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Auch weiser als der Kriegshäuptling?«
Thrall lachte. »Um einiges weiser als der. So machen wir es, Jaina.«
»Ausgezeichnet. Leb wohl, Thrall. Ich sehe dich in einer Woche.«
»Leb wohl, Jaina. Mögen wir gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.«
Jaina nickte und wirkte den Zauber, der sie zurück in ihre Kammer brachte. Dort wartete Aegwynn auf sie. Es hatte die alte Frau Zeit gekostet, wieder zu sich zu kommen, nachdem sie in der Höhle ohnmächtig geworden war, und Jaina hatte eine Weile sogar gefürchtet, dass sich die Wächterin gar nicht mehr erholen würde.
Jaina hatte selbst kaum noch über genügend Kraft verfügt, um sie zu dritt vom Deadmist-Gipfel weg zu befördern, fort von dem verfluchten Nebel. Weit hatte sie es nicht geschafft, aber irgendwie war es ihr gelungen, Theramore zu kontaktieren und ein Luftschiff anzufordern.
Während sich Jaina lediglich erschöpft gefühlt hatte, als das Luftschiff sie schließlich auflas, war Aegwynn schwach wie ein neugeborenes Kätzchen gewesen. Eine warme Mahlzeit, etwas Schlaf, mehr war nicht erforderlich gewesen, damit es Jaina wieder gut gegangen war. Aegwynn hingegen brauchte länger und sehr viel Zuwendung. Aber auch wenn die erste Prognose des Heilers noch schlecht ausgefallen war, attestierte er ihr schon nach wenigen Tagen die Zähigkeit eines Elfs. Was durchaus als Kompliment zu verstehen war.
Sie würde sich vollständig erholen. Und jetzt saß sie auf dem Besucherstuhl von Jainas Unterkunft. »Wurde auch Zeit, dass Ihr zurückkommt.«
»Ich bin froh, Euch wieder vollständig erholt zu sehen, Magna. Eure spitze Zunge eingeschlossen.« In ihren Augen blitzte es vergnügt.