Schritte kamen den Gang herauf. Andere Schritte, kleiner und unbedeutender, setzten den Kontrapunkt und mühten sich, nicht zurückzubleiben.
Das ist er. Ich werde sein Gesicht sehen.
Plötzlich wurde seine Arthritis schlimmer. Entsetzlich, genauer gesagt. Als wären seine Knochen plötzlich ausgehöhlt und mit gemahlenem Glas gefüllt worden. Und doch drehte er sich mit einem interessierten, erwartungsvollen Lächeln um, als die Schritte vor seiner Zellentür verstummten.
»Da sind Sie ja«, sagte Glen. »Sie sind ja überhaupt nicht das Schreckgespenst, für das wir Sie immer gehalten haben.«
Jenseits der Gitterstäbe standen zwei Männer. Flagg stand von Glen aus gesehen rechts. Er trug Bluejeans und ein weißes Seidenhemd, das unter der trüben Beleuchtung gelblich schimmerte. Er grinste Glen an. Neben ihm stand ein kleinerer Mann, der überhaupt nicht lächelte. Er hatte ein etwas zu kurzes Kinn, und seine Augen waren zu groß für sein Gesicht. Sein Teint war von der Sorte, zu der das Wüstenklima nie freundlich ist: Die Sonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, die Haut hatte sich abgeschält, und dann war der nächste Sonnenbrand gekommen. Um den Hals trug er an einer Kette einen schwarzen Stein mit einem roten Fleck. Der Stein hatte ein fettiges, harziges Aussehen.
»Ich möchte Sie gern mit meinem Partner bekannt machen«, sagte Flagg und kicherte. »Lloyd Henreid, darf ich dich mit Glen Bateman bekannt machen, Soziologe, Mitglied des Komitees der Freien Zone und seit Nick Andros' Tod einziges existierendes Mitglied der Gedankenfabrik der Freien Zone.«
»Freut mich«, murmelte Lloyd.
»Was macht Ihre Arthritis, Glen?« fragte Flagg. Das klang mitfühlend, aber in seinen Augen lag heiterer Spott und geheimes Wissen.
Immer wieder ballte Glen die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder.
Niemand würde je ermessen können, wie schwer ihm sein freundliches Lächeln fiel.
Der innere Wert des Tons.
»Gut«, sagte Glen. »Seit ich wieder in einem abgeschlossenen Raum schlafe, ist es viel besser geworden, vielen Dank.«
Flagg lächelte nicht mehr ganz so breit. Glen registrierte bei ihm Überraschung und Wut. Aus Angst geboren?
»Ich habe beschlossen, Sie gehen zu lassen«, sagte Flagg schnell. Wieder lächelte er, strahlend und wie ein Fuchs. Lloyd hielt vor Staunen den Atem an, und Flagg wandte sich ihm zu. »Stimmt's, Lloyd?«
»Äh... natürlich«, sagte Lloyd. »Und ob.«
»Das ist ja sehr schön«, sagte Glen leichthin. Er spürte, wie die Arthritis ihm immer tiefer in die Gelenke fuhr. Sie wurden kalt wie Eis und loderten wie Feuer.
»Man wird Ihnen ein kleines Motorrad zur Verfügung stellen, und Sie können, wann immer Sie wollen, wieder nach Hause fahren.«
»Ich kann natürlich nicht ohne meine Freunde fahren.«
»Natürlich nicht. Sie brauchen mich nur darum zu bitten. Fallen Sie vor mir auf die Knie, und bitten Sie mich darum.«
Glen mußte herzlich lachen. Er warf den Kopf zurück und lachte lange und laut. Und während er lachte, nahmen die Schmerzen in seinen Gelenken immer mehr ab. Er fühlte sich besser, stärker, hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Sie sind vielleicht ein Typ«, sagte er. »Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können. Suchen Sie sich einen riesigen Sandhaufen und besorgen Sie sich einen großen Hammer. Und dann hämmern Sie sich den ganzen Sand in den Arsch.«
Flaggs Gesicht wurde dunkel. Das Lächeln war verschwunden. Seine Augen, die vorher so dunkel waren wie der Stein, den Lloyd um den Hals trug, schienen jetzt gelb zu glitzern. Er griff mit der Hand an die Verriegelung der Zellentür und umklammerte sie mit den Fingern. Ein elektrisches Summen war zu hören, und zwischen seinen Fingern flackerten Flammen auf. Die Luft roch heiß und verbrannt. Qualmend und schwarz fiel das Schloß zu Boden. Lloyd Henreid stieß einen Schrei aus. Der dunkle Mann griff an die Gitterstäbe und ließ die Tür zurückgleiten.
»Hören Sie auf zu lachen.«
Glen lachte noch lauter.
»Hören Sie auf, mich auszulachen!«
»Sie sind ein Nichts!« sagte Glen und wischte sich die tränenden Augen. Er kicherte immer noch. »Oh, entschuldigen Sie bitte... wir hatten alle solche Angst.. .wir haben Sie für wer weiß wie wichtig gehalten... ich lache genauso sehr über unsere Dummheit wie über Ihren bedauernswerten Mangel an Substanz...«
Flagg wandte sich an seinen Begleiter. »Erschieß ihn, Lloyd.« Sein Gesicht hatte sich grauenhaft verzerrt. Seine Hände hatten sich zu Raubtierklauen gekrümmt.
»Bringen Sie mich doch selbst um, wenn Sie mich schon umbringen wollen«, sagte Glen. »Dazu sind Sie doch gewiß in der Lage. Berühren Sie mich mit dem Finger und halten Sie mein Herz an. Machen Sie das Zeichen des umgekehrten Kreuzes, und verpassen Sie mir eine kräftige Gehirnembolie. Holen Sie Blitze aus dem Himmel, die mich in zwei Teile spalten. Oh... o nein... o nein!«
Brüllend vor Lachen sank Glen auf seine Pritsche.
»Erschieß ihn!« donnerte der dunkle Mann.
Lloyd war blaß und zitterte vor Angst. Er nestelte die Pistole aus seinem Gürtel, und fast wäre sie ihm aus der Hand geglitten. Dann versuchte er, die Waffe auf Glen zu richten. Er mußte sie mit beiden Händen festhalten.
Glen sah Lloyd an und lächelte immer noch. Er hätte genausogut auf einer Cocktail-Party der Fakultät zu Hause in Woodsville, New Hampshire, sein können, wo er sich gerade von einem guten Witz erholte und sich anschickte, wieder ein wenig ernst zu werden.
»Wenn Sie unbedingt jemanden erschießen müssen, Mr. Henreid, dann erschießen Sie ihn.«
»Los, Lloyd.«
Lloyd drückte blindlings ab. In dem geschlossenen Raum hallte das Echo des Schusses besonders laut. Wütend hallte es immer wieder nach. Aber das Geschoß riß zwei Zoll neben Glen nur Betonsplitter aus der Wand, prallte ab, traf etwas anderes und zischte jaulend durch die Luft.
»Kannst du denn gar nichts richtig machen?« brüllte Flagg.
»Erschieß ihn, du Schwachkopf! Er steht doch direkt vor dir!«
»Ich versuch' es ja...«
Glen lächelte immer noch und war bei dem Schuß kaum zusammengezuckt. »Ich wiederhole, wenn du jemanden erschießen mußt, dann erschieß ihn. Er ist in Wirklichkeit gar kein Mensch. Ich habe ihn einem Freund gegenüber mal als letzten Magier des rationalen Denkens geschildert, Mr. Henreid. Das trifft besser auf ihn zu, als ich damals dachte. Aber seine Magie verläßt ihn. Die Dinge gleiten ihm aus der Hand, und er weiß es. Auch du weißt es. Wenn du ihn jetzt erschießt, würdest du uns allen Gott weiß wieviel Blutvergießen und Tod ersparen.«
Flaggs Gesicht zeigte keine Regung mehr. »Erschieß auf jeden Fall einen von uns, Lloyd«, sagte er. »Ich habe dich aus der Zelle geholt, als du schon fast verhungert warst. An Leuten wie ihm wolltest du dich doch rächen. An kleinen Leuten mit großen Klappen.«
»Mister, mich können Sie nicht zum Narren halten«, sagte Lloyd zu Glen. »Es ist so, wie Randy Flagg sagt.«
»Aber er lügt. Du weißt doch, daß er lügt.«
»Er hat mir mehr Wahrheit beigebracht, als es alle anderen in meinem lausigen Leben je versucht haben«, sagte Lloyd und schoss dreimal auf Glen.