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Dann lief er zum Haus, seine Füße kickten das Gras hoch, und sie nahm nebenbei dessen frischen Geruch in der Sommerluft wahr. Sie ging ihm einen Schritt nach. »Harold, was ist denn?«

Dann sprang er die Stufen zur Veranda hoch. Die Hintertür ging auf, Harold lief ins Haus, und die Tür schlug krachend hinter ihm zu. In der Stille, die sich danach herniedersenkte, hörte sie den schrillen Schrei einer Elster, und ein kleines Tier raschelte in den Büschen hinter der Steinmauer. Der Rasenmäher stand (verlassen) an der Grenze zwischen gemähtem Gras dahinter und hohem Gras davor, ein Stück vom Gartenhaus entfernt, wo sie und Amy einst ihre Brause aus Tassen einer Barbie-Küche getrunken und dabei vornehm die kleinen Finger abgespreizt hatten.

Frannie blieb eine Weile unentschlossen stehen, schließlich ging sie zur Tür und klopfte. Sie bekam keine Antwort, hörte Harold aber drinnen weinen.

»Harold?«

Keine Antwort. Er weinte immer noch.

Sie betrat den hinteren Flur der Lauders, wo es kühl, dunkel und duftend war - Mrs. Lauders Speisekammer lag links vom Flur, und so weit Frannie zurückdenken konnte, hatte es hier hinten immer angenehm nach getrockneten Äpfeln und Zimt gerochen, als warteten Kuchen nur darauf, gebacken zu werden.

»Harold?«

Sie ging durch den Flur in die Küche, dort saß Harold am Tisch. Er hatte die Hände ins Haar gekrallt, die grünen Füße standen auf dem verblichenen Linoleum, das Mrs. Lauder immer so fleckenlos sauber gehalten hatte.

»Harold, was ist denn los?«

»Geh weg!« schrie er unter Tränen. »Geh weg, du magst mich nicht!«

»Doch, ich mag dich. Du bist in Ordnung, Harold. Vielleicht nicht großartig, aber in Ordnung.« Sie machte eine Pause. »Wenn man die Umstände betrachtet, könnte ich momentan sogar sagen, du bist mir einer der liebsten Menschen auf der ganzen Welt.«

Daraufhin schien Harold noch lauter zu weinen.

»Hast du was zu trinken?«

»Brause«, sagte er. Er schniefte, wischte sich die Nase und sagte, ohne vom Tisch aufzusehen: »Sie ist warm.«

»Logisch. Hast du das Wasser von der Standpumpe geholt?« Wie viele kleine Städte hatte auch Ogunquit noch eine öffentliche Pumpe hinter dem Rathaus, die allerdings seit über vierzig Jahren eher eine Antiquität als eine eigentliche Wasserquelle war. Manchmal fotografierten Touristen sie. Das ist die öffentliche Pumpe in der kleinen Küstenstadt, wo wir unseren Urlaub verbracht haben. Ist das nicht kurios?

»Ja, da hab' ich es geholt.«

Sie schenkte jedem ein Glas ein und setzte sich. Wir sollten das im Gartenhaus trinken, dachte sie. Wir könnten beim Trinken die kleinen Finger in die Luft strecken. »Was ist los, Harold?«

Harold lachte seltsam hysterisch und hob zittrig die Brause an die Lippen. Er trank das Glas leer und stellte es ab. »Los? Was könnte denn los sein?«

»Ich meine, ist es etwas Bestimmtes?« Sie kostete die Brause und mußte sich anstrengen, das Gesicht nicht zu verziehen. Harold mußte das Wasser erst vor kurzem geholt haben, es war gar nicht so warm, aber er hatte den Zucker vergessen.

Schließlich sah er zu ihr auf. Sein Gesicht zeigte Tränenspuren, und ihm war immer noch zum Weinen zumute. »Ich brauche meine Mutter«, sagte er schlicht.

»O Harold...«

»Als es passierte, als sie starb, dachte ich noch: >Gar nicht so schlimm.<« Er griff nach seinem Glas und sah sie so verstört an, dass es fast beängstigend war. »Ich weiß, wie schrecklich sich das für dich anhören muß. Aber ich wußte nie, wie ich reagieren würde, wenn sie starben. Ich bin ein sehr sensibler Mensch. Deshalb haben die Schwachsinnigen in diesem Haus des Grauens, das die Stadtväter High School zu nennen beliebten, auch immer auf mir rumgehackt. Ich dachte, ich würde nach ihrem Tod vor Kummer fast verrückt werden oder mich mindestens ein Jahr lang verkriechen... meine innere Sonne, sozusagen, würde... würde... und als es geschah, meine Mutter... Amy... mein Vater... da sagte ich mir: >War ja gar nicht so schlimm.< Ich... sie...« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß sie zusammenzuckte. »Warum kann ich nicht ausdrücken, was ich meine?« schrie er. »Ich konnte immer ausdrücken, was ich meinte! Ein Schriftsteller muß Sprache zurechtschnitzen können, er muß dicht am Empfinden sein. Warum kann ich also nicht ausdrücken, was ich empfinde?«

»Harold, nicht. Ich weiß, was du empfindest.«

Er sah sie verblüfft an. »Du weißt...?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Das kannst du nicht wissen.«

»Weißt du noch, als du bei uns warst? Und ich das Grab ausgehoben habe? Ich war halb wahnsinnig. Ich wußte manchmal kaum noch, was ich tat. Als ich versucht habe, mir Bratkartoffeln zu machen, hätte ich fast das Haus angesteckt. Du kannst ruhig den Rasen mähen, wenn es dir dann besser geht. Aber wenn du dazu nur die Badehose anziehst, bekommst du einen Sonnenbrand. Es fängt schon an«, fügte sie mit einem kritischen Blick auf seine Schultern hinzu. Um höflich zu sein, trank sie noch einen Schluck von der scheußlichen Brause.

Er wischte sich mit der Hand über den Mund. »Ich mochte sie nicht einmal so gern«, sagte er, »aber ich dachte, man empfindet trotzdem Kummer. Wenn die Blase voll ist, muß man urinieren. Und wenn nahe Verwandte sterben, muß man trauern.«

Sie nickte, weil sie es seltsam fand, aber passend.

»Meine Mutter hat immer Amy vorgezogen. Amy war ihr Liebling«, betonte er übertrieben und beinahe mitleidig kindisch. »Und vor meinem Vater hat mir gegraut.«

Das leuchtete Fran ein. Brad Lauder war ein großer, muskulöser Mann gewesen, Vorarbeiter der Wollspinnerei in Kennebunk. Es leuchtete ein, daß er nicht wußte, was er von diesem sonderbaren fetten Sohn halten sollte, den seine Lenden hervorgebracht hatten.

»Er nahm mich einmal beiseite«, fuhr Harold fort, »und fragte mich, ob ich ein Schwulenbübchen wäre. Genau den Ausdruck hat er gebraucht. Ich bekam solche Angst, daß ich anfing zu weinen, und er schlug mir ins Gesicht und sagte, wenn ich so ein gottverdammtes Baby wäre, wäre es besser für mich, aus der Stadt zu verschwinden. Und Amy... ich glaube, man kann getrost sagen, daß es Amy scheißegal gewesen wäre. Wenn sie ihre Freundinnen mit nach Hause brachte, war ich nur eine Peinlichkeit. Sie hat mich behandelt wie ein unaufgeräumtes Zimmer.«

Mit Überwindung trank Fran die Brause leer.

»Und als sie gestorben waren und ich nichts dabei empfand, dachte ich zunächst, das war's denn. Wenn man trauert, muß man nicht unbedingt mit den Knien schlottern, sagte ich mir. Aber ich habe mir etwas vorgemacht. Ich habe sie jeden Tag mehr vermißt. Besonders meine Mutter. Wenn ich sie nur noch einmal sehen könnte... sie war oft nicht da, wenn ich sie sehen wollte... brauchte... weil sie sich mit Amy beschäftigte, aber sie war nie gemein zu mir. Und als ich heute morgen wieder daran denken mußte, sagte ich mir: >Ich mähe den Rasen. Dann komme ich auf andere Gedanken.< Aber es klappte nicht. Und ich habe immer schneller und schneller gemäht... als könnte ich davor weglaufen... und ich schätze, da bist du hereingeschneit. Habe ich so verrückt ausgesehen, wie mir zumute war, Fran?«

Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Es ist nicht schlimm, so zu empfinden, Harold.«

»Bist du sicher?« Er sah sie wieder mit diesen großen, kindlichen Augen an.

»Ja.«

»Sind wir Freunde?«

»Ja.«

»Gott sei Dank«, sagte Harold. »Gott sei Dank.« Seine Hand lag schweißfeucht in ihrer, er schien es zu merken und zog sie widerwillig zurück. »Möchtest du noch Brause?« fragte er unterwürfig.

Sie lächelte ihr diplomatischstes Lächeln. »Vielleicht später«, sagte sie.

Sie .veranstalteten ein Picknick im Park: Erdnußbutter- und Marmeladenbrote, Hostess Twinkies und für jeden eine große Flasche Cola. Die Cola schmeckte gut, weil sie sie vorher im Ententeich gekühlt hatten.

»Ich habe mir überlegt, was ich machen könnte«, sagte er. »Willst du den Rest von dem Twinkie nicht mehr?«

»Nein, ich bin satt.«

Ihr Twinkie verschwand mit einem Bissen in Harolds Mund. Seine verspätete Trauer hatte seinen Appetit nicht im geringsten beeinträchtigt, bemerkte Frannie, aber dann schalt sie sich für diesen häßlichen Gedanken.