Er wandte sich ab und sah nach Tom, aber Tom war nirgends zu sehen.
Er trottete die sonnengleißende Straße entlang; sein Kopf pulsierte monströs um das Auge, das Ray Booth gequetscht hatte, und pochte schmerzhaft.
Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis er Tom gefunden hatte.Tom kauerte zwei Straßen vom Einkaufsviertel entfernt auf der hinteren Veranda eines Hauses. Er saß auf einer verrosteten Hollywoodschaukel und drückte die Fisher-Price-Tankstelle an die Brust. Als er Nick sah, fing er an zu weinen.
»Bitte, geben Sie mir das nicht zu trinken, bitte geben Sie Tom Cullen kein Gift, meine Güte, nein, Daddy sagt, wenn es Ratten totmacht, macht es mich auch tot... biiiiitte!«
Nick merkte, daß er die Flasche Pepto-Bismol immer noch in der Hand hielt. Er warf sie weg und zeigte Tom die leeren Hände. Mußte sein Durchfall eben den natürlichen Verlauf nehmen. Vielen Dank, Julie.
Tom kam schluchzend die Verandastufen herab. »Tut mir leid«, sagte er immer wieder. »Es tut mir leid, es tut Tom Cullen leid.«
Sie gingen gemeinsam zur Main Street... und blieben überrascht stehen. Beide Fahrräder waren umgestürzt. Die Reifen waren aufgeschlitzt worden. Der Inhalt ihres Gepäcks lag von einer Straßenseite zur anderen verstreut.
In dem Augenblick zischte etwas mit hoher Geschwindigkeit an Nicks Gesicht vorbei - er spürte es -, und Tom schrie und rannte los. Nick blieb einen Moment verblüfft stehen, schaute sich um, blickte zufällig in die richtige Richtung, sah das Mündungsfeuer des zweiten Schusses. Er kam aus einem Fenster im ersten Stock des Pratt Hotels. Etwas wie eine superschnelle Nähnadel schlug durch den Stoff seines Hemdkragens.
Er drehte sich um und rannte hinter Tom her.
Er hatte keine Möglichkeit festzustellen, ob Julie noch einmal schoß; als er Tom eingeholt hatte, wußte er nur eines mit Sicherheit: daß sie keinen von ihnen getroffen hatte. Wenigstens sind wir dieses Satansweib los, dachte er; aber wie sich herausstellen sollte, stimmte das nicht ganz.
An diesem Abend schliefen sie drei Meilen nördlich von Pratt in einer Scheune, und Tom erwachte immer wieder aus Alpträumen und weckte Nick, daß dieser ihn beruhigte. Am nächsten Morgen gegen elf Uhr erreichten sie luka und fanden in einem Laden, der sich »Sport und Cycle World« nannte, zwei gute Fahrräder. Nick, der sich allmählich von seiner Begegnung mit Julie erholte, wollte ihre Ausrüstung in Great Bend vervollständigen, das sie spätestens am 14. Juli erreichen würden.
Aber am Nachmittag des 12. Juli gegen Viertel vor drei sah er im linken Rückspiegel am linken Handgriff etwas aufblitzen. Er hielt an (Tom, der hinter ihm fuhr und träumte, fuhr ihm über den Fuß, aber Nick merkte es kaum) und sah sich um. Das Funkeln, das direkt auf dem Hügel hinter ihnen aufgegangen war wie das Tagesgestirn, erfreute und blendete sein Auge - er konnte es kaum glauben. Es war ein Chevy -Lieferwagen, ein uraltes Modell, eine gute alte Blechkiste aus Detroit, die langsam näherkam, von einer Fahrspur der US 81 auf die andere wechselte und so einem Gewirr liegengebliebener Fahrzeuge auswich.
Der Wagen fuhr neben sie (Tom wirkte ausgelassen, aber Nick konnte nur erstarrt und mit gespreizten Beinen über dem Fahrrad dastehen) und hielt an. Es ist Julie Lawry mit ihrem tückischen Lächeln! war Nicks letzter Gedanke, bevor sich der Fahrer herausbeugte. Sie würde die Waffe auf sie richten, mit der sie ihn und Tom schon einmal hatte töten wollen, und auf diese Entfernung konnte sie unmöglich danebenschießen. Die Hölle kennt keine größere Wut als die einer verschmähten Frau.
Aber das Gesicht, das auftauchte, war das eines vierzigjährigen Mannes mit Strohhut, in dessen blauem Samtband keck eine Feder steckte, und als er grinste, wurde sein Gesicht zu einer Wüste von Lachfältchen.
Und er sagte: »Bei allen Heiligen, soll ich mich jetzt freuen, euch Jungs zu treffen? Ja, ich glaub' schon. Steigt ein. Wollen mal sehen, wohin wir fahren.«
So lernten Nick und Tom Ralph Brentner kennen.
44
Er wurde verrückt - Baby, don't you just know it?
Diese Zeile stammte von Huey »Piano« Smith, wo er gerade daran dachte. War lange her. Huey »Piano« Smith, wie ging das noch? Ahah-ah-ah, daaaay-o... guuba-guuba-guuba... ah-ah-ah-ah. Und so weiter. Witz, Weisheit und gesellschaftskritischer Kommentar von Huey »Piano« Smith.
»Scheiß auf den sozialkritischen Kommentar«, sagte er. »Huey >Piano< Smith war vor meiner Zeit.«
Jahre später hatte Johnny Rivers einen von Hueys Songs neu aufgenommen, »Rockin Pneumonia and the Boogie Woogie Flu«. Larry Underwood konnte sich noch gut daran erinnern und fand es der Situation sehr angemessen. Der gute alte Johnny Rivers. Der gute alte »Piano« Smith.
»Scheiß drauf«, bemerkte Larry noch einmal. Er sah schrecklich aus - ein bleiches, ausgezehrtes Phantom, das über einen Highway in Neuengland stolperte. »Es leben die Sechziger.«
Ja, die Sechziger, das waren noch Zeiten. Mitte der Sechziger, Ende der Sechziger, Flower Power. Gettin clean for Gene. Andy Warhol mit seiner Brille mit rosa Gestell und seinen dummen Brillo-Kartons. Velvet Underground. The Return of the Creature from Yorba Linda. Norman Spinrad, Norman Mailer, Norman Thomas, Norman Rockwell und der gute alte Name Norman Bates von Bates Motel, hihi-hi. Dylan brach sich das Genick. Barry McGuire krächzte »The Eye of Destruction«. Diana Ross hob das Bewußtsein aller weißen Jugendlichen in Amerika. Die vielen tollen Gruppen, dachte Larry benommen, gebt mir die Sechziger und schiebt euch die Achtziger in den Arsch. Wenn es um Rock' n' Roll ging, waren die sechziger Jahre das letzte Hurra der Goldenen Horde gewesen. Cream. Rascals. Spoonful. Airplane mit Grace Slick als Sängerin, Norman Mailer an der Leadgitarre und der gute alte Norman Bates am Schlagzeug. Beatles. Who. Dead...
Er stürzte und schlug mit dem Kopf auf.
Die Welt schwamm schwarz davon und kam in hellen Wellen zurück. Er strich sich mit der Hand über die Schläfe und sah einen dünnen Blutfilm daran. Spielte keine Rolle. Scheiß drauf, wie sie in den fernen, legendären Sechzigern zu sagen pflegten. Was waren schon ein Sturz und eine harmlose Kopfverletzung, wenn er daran dachte, daß er seit einer Woche kaum geschlafen hatte, immer wieder aus Alpträumen aufgewacht war und es schon als ruhige Nacht betrachtete, wenn ihm kein Schrei über die Lippen kam. Wenn man wirklich laut schrie und davonaufwachte, machte man sich selbst noch viel mehr Angst.
Träume vom Lincoln Tunnel. Jemand war hinter ihm her, aber in den Träumen war es nicht Rita. Es war der Teufel, und er schlich sich mit einem starren, dunklen Grinsen im Gesicht an Larry heran. Der schwarze Mann war nicht der wandelnde Tote; er war schlimmerals der wandelnde Tote. Larry lief und empfand dabei die langsame, zähe Panik von Alpträumen, stolperte über Leichen, die er nicht sah, wußte aber, daß sie ihn mit den glasigen Augen ausgestopfter Tiere aus den Grüften ihrer Autos anstarrten, er lief, aber welchen Sinn hatte es, zu laufen, wo doch der schwarze Teufel, der schwarze Zauberer, mit Augen wie Infrarotgläsern in der Dunkelheit sehen konnte? Und nach einer Weile gurrte der dunkle Mann ihm lockend zu: Komm Laarry, komm doch, gemeinsam schaffen wir eeees. Laaaarry...
Er spürte den Atem des schwarzen Mannes an der Schulter, und dann kämpfte er sich stets aus dem Schlaf hoch, versuchte, vor dem Schlaf zu fliehen, und der Schrei blieb ihm im Hals stecken wie ein heißer Knochen oder kam ihm tatsächlich über die Lippen - laut genug, um Tote zu wecken.
Tagsüber verschwand die Vision des dunklen Mannes. Der dunkle Mann arbeitete ausschließlich in Nachtschicht. Tagsüber machte Larry die große Einsamkeit zu schaffen und fraß sich mit den scharfen, spitzen Zähnen eines unermüdlichen Nagetiers in sein Gehirn - eine Ratte oder vielleicht ein Wiesel. Tagsüber waren seine Gedanken bei Rita. Lovely Rita, Motorradbraut. Immer wieder drehte er sie im Geiste herum, sah die verkniffenen Augen, die Augen eines Tieres, das überrascht und unter Schmerzen gestorben war, und den Mund, den er geküßt hatte und der jetzt voll abgestandener grüner Kotze war. Sie war so friedlich gestorben, in der Nacht, im selben verdammten Schlafsack, und jetzt war er am...