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»Sie machen es mir nicht leicht.«

»Heutzutage ist das ganze Leben nicht mehr leicht.«

Er dachte darüber nach. Joe saß auf der weichen Böschung an der Straße und sah aus seinen Meerwasseraugen zu ihnen herüber. Hinter ihnen schlugen die Wellen des Ozeans unaufhörlich gegen die Felsen und dröhnten in den geheimen Tunneln, wo sie das Land ausgehöhlt hatten.

»Na gut«, sagte er. »Ich finde, Sie sind gefährlich weichherzig, aber... na gut.«

»Danke«, sagte Nadine. »Ich übernehme die Verantwortung für alles, was er tut.«

»Ein schöner Trost, wenn er mich aufgeschlitzt hat.«

»Das würde mir bis an mein Lebensende auf der Seele liegen«, sagte Nadine, und eine plötzliche Gewißheit, daß sich alle ihre Worte über die Unverletzlichkeit des Lebens eines nicht zu fernen Tages erheben und sie verspotten würden, durchfuhr sie wie ein kalter Wind, so daß sie erschauerte. Nein, sagte sie sich. Ich werde nicht töten. Das nicht. Niemals.

Sie verbrachten die Nacht im weichen weißen Sand des öffentlichen Strandes von Wells. Larry entfachte ein großes Lagerfeuer oberhalb des Tangstreifens, der den letzten Hochwasserstand markierte, und Joe saß abseits von ihm und Nadine und warf hin und wieder kleine Äste in die Flammen. Ab und zu hielt er einen größeren Ast ins Feuer, bis dieser wie eine Fackel brannte; dann lief er damit am Strand entlang und hielt ihn hoch wie eine riesige brennende Geburtstagskerze. Sie beobachteten ihn, bis er aus dem dreißig Schritte messenden Lichtkreis des Feuers verschwunden war, sahen dann nur noch die Fackel, deren Flamme bei Joes schnellem Lauf nach hinten geweht wurde. Der Wind war stärker geworden, es war so frisch wie seit Tagen nicht mehr. Larry erinnerte sich vage an den Regenguß an dem Nachmittag, als er seine sterbende Mutter gefunden hatte, bevor die Super-Grippe wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug über New York hinweggerast war. Erinnerte sich an das Gewitter und die weißen Vorhänge, die wild in die Wohnung geweht worden waren. Er zitterte ein wenig, und der Wind ließ eine Flammenspirale aus dem Feuer zum schwarzen Sternenhimmel emportanzen. Fünkchen stoben noch höher und erloschen. Er dachte an den Herbst, der immer noch in weiter Ferne lag, aber nicht mehr so weit wie an dem Tag im Juni, als er seine Mutter im Delirium auf dem Fußboden gefunden hatte. Im Norden, weit entfernt am Strand, hüpfte Joes Fackel auf und ab. Er fühlte sich einsam und noch kälter - und nur wegen diesem einen Licht, das in der gewaltigen, stummen Dunkelheit flackerte. Die Brandung rollte und dröhnte.

»Spielen Sie?«

Er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte, und betrachtete den Gitarrenkasten, der neben ihnen im Sand lag. Er hatte im Musikzimmer des großen Hauses, in das sie eingebrochen waren, um ihre Vorräte zu ergänzen, an einem Steinway-Flügel gelehnt. Larry hatte so viele Dosen in den Rucksack gepackt, wie sie brauchten, um die heute verzehrten Vorräte zu ergänzen, und die Gitarre ganz impulsiv mitgenommen, ohne in den Kasten zu sehen, um was für ein Modell es sich handelte - wenn sie aus so einem Herrenhaus stammte, mußte sie einfach gut sein. Er hatte seit dieser irren Party in Malibu nicht mehr gespielt, und das war vor sechs Wochen gewesen. In einem anderen Leben.

»Ja, ich kann spielen«, sagte er und stellte fest, daß er spielen wollte, nicht für sie, sondern weil es manchmal gut tat zu spielen; es entspannte. Und wenn man ein Feuer am Strand hatte, mußte einfach jemand Gitarre spielen. Das war eine praktisch in Stein gemeißelte Weisheit.

»Mal sehen, was wir da haben«, sagte er und ließ die Laschen des Gitarrenkastens aufklappen.

Er hatte ein teures Instrument erwartet, aber was er in dem Kasten fand, war dennoch eine freudige Überraschung. Es war eine zwölfsaitige Gibson, ein wunderschönes Instrument, vielleicht sogar handgefertigt. Larry war nicht Fachmann genug, das zu beurteilen. Er wußte aber, daß die Intarsien am Griffbrett aus echtem Perlmutt waren - das orangerote Leuchten des Feuers spiegelte sich darin und machte sie zu Prismen des Lichts.

»Sie ist wunderschön«, sagte Nadine.

Er schlug die Saiten an, und der Klang gefiel ihm, obwohl die Gitarre offen und obendrein nicht richtig gestimmt war. Der Klang war voller als der einer sechssaitigen. Ein harmonischer Klang, aber hart. Das war das Gute an einer Gitarre mit Stahlsaiten, der schöne harte Klang. Und die Saiten waren Black Diamonds, abgegriffen und leicht verzogen, aber man bekam einen schönen, ehrlichen Preis für sein Spiel; das Instrument klang nur ein wenig rauh, wenn man Akkorde wechselte - zing! Er lächelte ein wenig, als er an Barry Grieg dachte, der die glatten, flachen Stahlsaiten so verachtet hatte.

»Dollardrähte«, hatte er sie immer genannt. Der gute alte Barry, der Steve Miller sein wollte, wenn er groß war.

»Weshalb lächeln Sie?« fragte Nadine.

»Wegen der alten Zeiten«, sagte er, und ein wenig Trauer stieg in ihm auf.

Er stimmte nach Gehör, genau richtig, und dachte immer noch an Barry und Johnny McCall und Wayne Stukey. Als er zum Ende kam, tippte sie ihn leicht auf die Schulter, und er sah auf. Joe stand neben dem Feuer und hielt den abgebrannten Ast weltvergessen in der Hand. Er stand mit offenem Mund da und blickte Larry mit unverhohlener Faszination in den seltsamen Augen an.

Sehr leise, so leise, daß es ein Gedanke in seinem Kopf hätte sein können, sagte Nadine: »Musik hat einen Zauber...«

Larry schlug eine einfache Melodie auf der Gitarre an, einen alten Blues, den er als Teenager aus einem Elektra-Folk-Album nachgespielt hatte. Ursprünglich von Koerner Ray und Glover, dachte er. Als er glaubte, daß er die Melodie im Griff hatte, ließ er sie über den Strand klingen, und dann sang er... sein Gesang war schon immer besser als sein Spiel gewesen.

»Well you see me comin baby from a long ways away 

I will turn the night mamma right into day 

Cause l'm here 

A long ways from my home 

But you can hear me comin baby 

By the slappin on my black cat bone.«

Der Junge grinste jetzt, grinste so erstaunt wie jemand, der ein kostbares Geheimnis entdeckt hat. Er sah aus wie einer, der lange, lange Zeit an einem Jucken zwischen den Schulterblättern litt, wo er nicht hinkam, fand Larry, und endlich jemanden gefunden hatte, der ganz genau wußte, wo er kratzen mußte. Er kramte in den lange brach gelegenen Archiven seines Verstandes nach einer zweiten Strophe und fand eine.

»I can do some things mamma that other men can't do 

They can't find the numbers baby, can't work the conqueror root 

But I can, cause l'm a long ways from my home 

And you know you'll hear me comin 

By the whacking on my black cat bone.«

Das offene, entzückte Grinsen des Jungen ließ seine Augen aufleuchten und verwandelte sie in etwas, dachte Larry, das höchstwahrscheinlich die Schenkelmuskeln eines jeden jungen Mädchens etwas entkrampfen würde. Er suchte nach einer instrumentalen Überleitung und bewerkstelligte sie gar nicht so schlecht. Seine Finger entlockten der Gitarre die richtigen Töne: hart, knapp, ein klein wenig kitschig, wie gestohlener Modeschmuck, der an einer Straßenecke aus einer Papiertüte verkauft wurde. Er prahlte ein wenig damit, wechselte aber hastig zu einem guten alten E mit drei Fingern über, ehe er die Melodie völlig versaute. An die letzte Strophe, etwas über Eisenbahnschienen, konnte er sich nicht mehr erinnern, daher wiederholte er die erste und hörte dann auf. Als Stille eingetreten war, lachte Nadine und klatschte in die Hände. Joe warf den Ast weg, hüpfte im Sand auf und ab und stiess Freudenschreie aus. Larry konnte die Veränderung des Jungen kaum fassen und ermahnte sich, sie nicht zu ernst zu nehmen. Damit würde er nur eine Enttäuschung riskieren.