Müll duckte sich hinter die Haube des Porsche, an den Kid die Whiskeyflasche geworfen hatte, und spähte vorsichtig darüber. Ja, da war Kids Coupe mit der glänzenden Goldbemalung, der konvexen Scheibe und der Haifischflosse, die in den blutergußfarbenen Himmel stach. Kid saß zusammengesunken hinter dem fluoreszierenden Lenkrand und hatte die Augen zu und den Mund offen. Mülleimers Herz klopfte einen trommelnden Siegestanz in der Brust. Hackevoll! verkündete sein Herz in zwei Schlägen. Hackevoll! Bei Gott! Hackevoll!Müll dachte, er könnte zwanzig Meilen östlich sein, bis Kid mit seinem Kater aufwachte.
Trotzdem war er vorsichtig. Er huschte von einem Auto zum nächsten wie ein Wasserfloh, der über die ruhige Oberfläche eines Teichs hüpft, umrundete das Coupe links, hastete über die immer breiteren Lücken. Jetzt lag das Coupe bei neun Uhr links von ihm, jetzt bei sieben und jetzt bei sechs, direkt hinter ihm. Jetzt nur noch Entfernung zwischen sich und diesen verrückten...
»Bleib bloß stehen, du brunzdummer Schwanzlutscher.«
Müll erstarrte auf Händen und Knien. Er machte Pipi in die Hose, sein Verstand verwandelte sich in eine irre flatternde Amsel der Panik.
Er drehte sich um, die Sehnen in seinem Hals ächzten wie Türangeln in einem Spukhaus. Und da stand Kid. Er trug jetzt ein irisierendes grünes Hemd und ein Paar sonnengebleichte Cordhosen. In jeder Hand einen Fünfundvierziger, das Gesicht eine Grimasse aus Hass und Wut.
»Ich wollte gerade den Weg da runter abchecken«, hörte Mülleimermann sich sagen. »Um sicherzugehen, daß der Weg frei ist.«
»Klar, auf Händen und Knien, Pißnelke. Ich werd' deinen verdammten Weg freimachen. Steh auf.«
Müll kam irgendwie auf die Füße und blieb auf denselben, indem er sich am Türgriff eines Autos rechts von sich festhielt. Die beiden Mündungen der 45er von Kid sahen genauso aus wie die beiden Röhren des Eisenhower Tunnel. Jetzt sah er dem Tod ins Auge. Das wußte er. Diesmal gab es keine passenden Worte, ihm zu entgegnen.
Er sprach ein stummes Gebet zum dunklen Mann: Bitte... wenn es dein Wille ist... mein Leben für dich!
»Was ist da oben?« fragte Kid. »Ein Unfall?«
»Ein Tunnel. Völlig verstopft. Darum bin ich zurückgekommen, um es dir zu sagen. Bitte...«
»Ein Tunnel«, stöhnte Kid. »Beim kahlköpfigen Heiland!« Seine Miene wurde wieder finster. »Lügst du mich an, elende Tunte?«
» Nein! Ich schwöre es! Auf dem Schild stand Leesenhoover Tunnel. Ich glaube, das stand da, aber ich habe Mühe mit langen Worten. Ich...«
»Halt die Klappe. Wie weit?«
»Acht Meilen. Vielleicht mehr.«
Kid schwieg einen Moment und sah nach Westen über die Straße. Dann betrachtete er Mülleimer mit glitzernden Augen. »Willste mir weismachen, daß der Stau acht Meilen lang ist? Verlogener Drecksack!« Kid spannte die Hähne beider Revolver halb. Müll, der halb gespannt nicht von ganz gespannt und ganz gespannt nicht von einer Tüte Wanzen hätte unterscheiden können, kreischte wie eine Frau und legte die Hände vor die Augen.
» Ungelogen!« schrie er. » Ungelogen! Ich schwöre es! Ich schwöre es!«
Kid sah ihn lange Zeit an. Schließlich ließ er die Hähne der Revolver wieder sinken.
»Ich bring' dich um, Mülli«, sagte er lächelnd. »Ich puste dir dein jämmerliches Licht aus. Aber vorher gehen wir zu dem Unfall von heute morgen zurück. Du wirst den VW-Bus über den Rand schieben. Dann kehr' ich um und such 'nen anderen Weg. Ich geh' nicht ohne mein Scheißauto«, fügte er quengelnd hinzu. »Auf keiheinen Fall.«
»Bitte, bring mich nicht um«, flüsterte Müll. »Bitte nicht.«
»Wenn du den VW in weniger als fünfzehn Minuten über den Rand bringst, vielleicht nicht«, sagte Kid. »Glaubste die Heißescheiße?«
»Ja«, sagte Müll. Aber er hatte tief in die unnatürlich glitzernden Augen sehen können und glaubte es ganz und gar nicht. Sie gingen zu der Unfallstelle zurück, Mülleimermann mit wackligen Knien voraus. Kid schritt trippelnd aus, seine Lederjacke ächzte leise in ihren geheimen Falten. Ein vages, fast liebliches Lächeln umspielte seinen Puppenmund.
Als sie die Unfallstelle erreichten, war die Dämmerung fast vorbei. Der VW Bus lag auf der Seite, die Leichen der drei oder vier Insassen bildeten ein Durcheinander von Armen und Beinen, das gnädigerweise in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu sehen war. Kid ging an dem Bus vorbei zum Straßenrand und betrachtete die Stelle, wo sie zehn Stunden vorher vorbeigeschrammt waren. Eine Reifenspur des Coupe war noch da, aber die andere war zusammen mit der Böschung abgestürzt.
»Nee«, sagte Kid endgültig. »Hier kommen wir nie vorbei, wenn wir vorher nicht gründlich aufräumen. Brauchste mir nicht zu sagen, ich sag's dir.«
Einen Augenblick spielte Mülleimer mit dem Gedanken, auf Kid loszustürmen und ihn über den Rand zu stoßen. Dann drehte Kid sich um. Er hatte die Revolver gezogen und beiläufig auf Mülls Leibesmitte gerichtet.
»Aber Mülli. Hast böse Gedanken gehabt. Und keine Ausreden. Ich kann dich lesen wie ein offenes Buch.«
Mülleimer schüttelte heftig widersprechend den Kopf hin und her.
»Mach keinen Fehler mit mir, Mülli. Um nichts auf der Welt solltest du das machen. Und jetzt schieb diesen Bus weg. Du hast fünfzehn Minuten.«
In der Nähe parkte ein Austin auf dem unterbrochenen Mittelstreifen. Kid machte die Beifahrertür auf, zerrte beiläufig den aufgedunsenen Leichnam eines Teenagermädchens heraus (ihr Arm riß in seiner Hand ab, er warf ihn geistesabwesend weg wie ein Mann, der einen Truthahnknochen abgenagt hat) und setzte sich auf den Beifahrersitz, so daß die Füße draußen auf dem Asphalt blieben. Er gestikulierte gutgelaunt mit den Revolvern zu der geduckten, schlotternden Gestalt des Mülleimermanns.
»Zeit läuft, Kumpel.« Er warf den Kopf zurück und sang: »Oh... da kommt Johnny mit dem Fimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht Loszum Ro-dee-Oh... ganz recht, Mülli, elender Waschlappen, mach dich dran, nur noch zwölf Minuten übrig... und links rechts links rechts, komm schon, alter Dummkopf, setz dich in Bewegung...«
Müll lehnte sich gegen den Bus. Spannte die Beine an und drückte. Der Bus glitt vielleicht fünf Zentimeter Richtung Abgrund. In seinem Herzen wuchs wieder Hoffnung - dieses unverwüstliche Unkraut des menschlichen Herzens. Kid war irrational, impulsiv, Carley Yates und seine Billardkumpel hätten gesagt, verrückter als eine Scheißhausratte. Vielleicht würde der Irre ihn wirklich leben lassen, wenn er den Bus tatsächlich über den Rand stoßen und damit Platz für Kids kostbares Coupe schaffen konnte.
Vielleicht.
Er senkte den Kopf, packte den Rand der Karosserie des VW und schob mit aller Kraft. Schmerzen loderten in seinem erst kürzlich verbrannten Arm auf, er wußte, gleich würde das empfindliche neue Gewebe aufplatzen. Dann würden die Schmerzen zur Qual werden. Der Bus bewegte sich sieben Zentimeter. Schweiß troff von Mülleimers Stirn und rann ihm in die Augen, wo er wie warmes Motorenöl brannte.
»Oh, da kommt Johnny mit dem Pimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht LOSzum Ro-dee- Oh« sang Kid. »Und allemannlinks, allemannr...«
Das Lied brach ab wie ein trockener Zweig. Mülleimermann sah erschrocken auf. Kid war vom Beifahrersitz des Austin aufgestanden. Er hatte Müll das Profil zugekehrt und starrte über ihre Hälfte der Straße zu den östlichen Fahrspuren. Dahinter erhob sich ein Felshang voll Gestrüpp, der den halben Himmel verdeckte.
»Scheiße, was war denn das?« flüsterte Kid.
»Ich hab' nichts geh...«
Aber dann hörteer etwas. Er hörte das leise Prasseln von Geröll und Steinen auf der anderen Seite des Highway. Seine Träume fielen ihm so unvermittelt heftig wieder ein, daß sein Blut gefror und sämtliche Spucke in seinem Mund verdampfte.