» Wer ist da?« brüllte Kid. » Antworte! Antworte, verdammt, oder ich schieße!«
Und er bekam Antwort, aber nicht von einer menschlichen Stimme. Ein Heulen schwoll in der Nacht an wie eine heisere Sirene, das zuerst anstieg und dann rasch zu einem tiefen, kehligen Knurren sank.
»Heiliger Jesus!« sagte Kid mit plötzlich dünner Stimme. Wölfe kamen den Hang herunter und überquerten den weißen Streifen am Rand des Highway, hagere graue Gebirgswölfe mit roten Augen und aufgerissenen, geifernden Mäulern. Es waren mehr als zwei Dutzend. Mülleimer machte in der Ekstase des Entsetzens wieder Pipi in die Hose.
Kid kam um die Karosserie des Austin herum, legte die Fünfundvierziger an und fing an zu feuern. Flammen loderten aus den Mündungen; die Schüsse hallten von den Bergwänden wider, bis es sich anhörte, als wäre eine ganze Artillerie im Einsatz. Mülleimermann schrie auf und steckte die Zeigefinger in-die Ohren. Der Nachtwind verwehte den frischen, beißenden, heißen Revolverrauch. Schießpulvergestank stach in der Nase. Die Wölfe kamen ungerührt näher, nicht schneller und nicht langsamer. Ihre Augen... der Mülleimermann konnte den Blick nicht von ihren Augen nehmen. Es waren nicht die Augen gewöhnlicher Wölfe; davon war er überzeugt. Es waren die Augen ihres Herrn, dachte er. Ihres Herrn und seines Herrn. Plötzlich fiel ihm sein Gebet wieder ein, und er hatte keine Angst mehr. Er nahm die Finger aus den Ohren. Er achtete nicht auf die Nässe, die sich in seinem Schritt ausbreitete. Er fing an zu lächeln.
Kid hatte beide Revolver leergeschossen und damit drei Wölfe niedergestreckt. Er steckte die Waffen ins Halfter, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie nachzuladen, und wandte sich nach Westen. Er ging etwa zehn Schritte, dann blieb er stehen. Auf den Fahrspuren nach Westen kamen ebenfalls Wölfe daher, sie schlichen zwischen den dunklen Formen der liegengebliebenen Fahrzeuge dahin wie vereinzelte Nebelschwaden. Einer hob die Schnauze himmelwärts und heulte. Ein zweiter Schrei gesellte sich dazu, ein dritter zum zweiten, schließlich ein ganzer Chor zum dritten. Dann trotteten sie weiter.
Kid wich zurück. Jetzt versuchte er, einen Revolver zu laden, aber die Kugeln fielen ihm aus den nervösen Fingern. Plötzlich gab er auf.
Die Waffe fiel ihm aus der Hand und polterte auf die Straße. Die Wölfe stürmten auf ihn zu, als wäre das ein Signal gewesen. Kid warf sich mit einem schrillen, dünnen Angstschrei herum und lief zu dem Austin. Beim Laufen fiel der zweite Revolver aus dem tiefhängenden Halfter und polterte auf die Straße. Mit tiefem, bedrohlichem Knurren sprang der erste Wolf auf ihn zu, als Kid sich eben in den Austin warf und die Tür zuschlug.
Er schaffte es gerade. Der Wolf prallte von der Tür ab, knurrte und rollte die roten Augen auf gräßliche Weise. Die anderen gesellten sich zu ihm, Augenblicke später war der Austin von Wölfen umzingelt. Kids Gesicht im Inneren war ein kleiner weißer Mond, der heraussah.
Dann kam einer der Wölfe auf den Mülleimermann zu; er hatte den dreieckigen Kopf gesenkt, die Augen glühten wie Sturmlampen.
Mein Leben für dich...
Müll ging ihm festen Schrittes und überhaupt nicht ängstlich entgegen. Er streckte die verbrannte Hand aus, und der Wolf leckte sie. Nach einem Augenblick ließ er sich zu Mülls Füßen nieder und legte den zotteligen, buschigen Schwanz um die Schnauze. Kid starrte ihn mit offenem Mund an.
Mülleimermann lächelte ihm in die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger.
Beide Mittelfinger.
Und er schrie: »Hol dich der Teufel! Du bist fertig! Hast du verstanden? GLAUBSTE DIE HEISSESCHEISSE? FERTIG! BRAUCHSTE MIR NICHT ZU SAGEN, ICH SAG'S DIR!«
Der Wolf schloß das Maul sanft um Mülls gute Hand. Dieser sah nach unten. Der Wolf stand wieder und zog ihn sanft weiter. Zog ihn nach Westen.
»Gut«, sagte Mülleimer gelassen. »Okay, Junge.«
Er setzte sich in Marsch, und der Wolf fiel gleich hinter ihm ein und folgte ihm wie ein gut abgerichteter Hund. Als sie weitergingen, kamen fünf andere zwischen den liegengebliebenen Autos hervor und gesellten sich zu ihnen. Jetzt ging ihm ein Wolf voraus, zwei an seiner Seite, einer hinter ihm, als wäre er ein Würdenträger mit Eskorte.
Er blieb einmal stehen und sah über die Schulter. Er vergaß nie, was er sah: einen Ring Wölfe, die geduldig in einem grauen Kreis um den Austin herumsaßen, und die blasse Scheibe von Kids Gesicht, der herausstarrte und hinter dem Fenster den Mund bewegte. Die Wölfe schienen Kid anzugrinsen, die Zungen hingen ihnen aus den Mäulern. Sie schienen ihn zu fragen, wie lange es denn noch dauern würde, bis er den dunklen Mann mit einem Arschtritt aus dem ollen Lost Wages hinausbeförderte. Wie lange genau?
Der Mülleimermann fragte sich, wie lange diese Wölfe um den kleinen Austin herumsitzen und ihn mit einem Ring aus Zähnen umzingeln würden. Die Antwort lautete selbstverständlich, solange es eben erforderlich sein würde. Zwei Tage, drei, vielleicht sogar vier. Kid würde drinnen sitzen und nach draußen schauen. Nichts zu essen (es sei denn das Teenagermädchen hatte einen Passagier gehabt), nichts zu trinken, die Innentemperatur im Wagen durch den Treibhauseffekt nachmittags wahrscheinlich bis zu fünfzig Grad. Die Schoßhündchen des dunklen Mannes würden warten, bis Kid verhungerte oder wahnsinnig genug war, die Tür aufzumachen und einen Fluchtversuch zu wagen. Der Mülleimermann kicherte in der Dunkelheit. Kid war nicht besonders groß. Er würde nicht mehr als einen Happen für jeden abgeben. Und was sie bekamen, konnte durchaus Gift für sie sein.
»Hab' ich recht?« schrie er und meckerte zu den funkelnden Sternen hinauf. »Ihr braucht mirnicht zu sagen, ob ihr diese Heißescheiße glaubt! Verflucht noch mal, ich sag's EUCH!«
Seine geisterhafte graue Eskorte trottete ernst neben ihm dahin und schenkte den Schreien des Mülleimermanns keine Beachtung. Als sie das Coupe von Kid erreicht hatten, trottete der Wolf hinter ihm hin, schnupperte an einem der Breitreifen, dann grinste er sardonisch, hob ein Bein und machte Pipi daran.
Mülleimermann fing an zu lachen. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen und seine rissigen, stoppeligen Wangen hinabliefen. Sein Wahnsinn wollte jetzt wie ein feiner Rollbraten nur noch, dass ihn die Wüstensonne garkochte und abrundete, ihm den letzten Hauch köstlichen Aromas verlieh.
Sie gingen weiter, der Mülleimermann und seine Eskorte. Als der Verkehr dichter wurde, krochen sie entweder mit am Boden schleifenden Bäuchen unter Autos durch oder sprangen über Motorhauben und Dächer in seiner Nähe - geschmeidige, stumme Begleiter mit roten Augen und weißen Zähnen. Als sie den Eisenhower Tunnel kurz nach Mitternacht erreichten, zögerte der Mülleimermann nicht, sondern schritt wacker ins klaffende Maul der Westseite hinein. Wie konnte er jetzt Angst haben? Wie konnte er sich mit solchen Wächtern fürchten?
Es war ein langer Weg, und er hatte, noch ehe er richtig begonnen hatte, schon jegliches Zeitgefühl verloren. Er tastete sich blind von einem Auto zum nächsten. Einmal griff er mit der Hand in etwas Nasses und ekelerregend Weiches, gefolgt von einem gräßlichen Wusch stinkenden Gases. Nicht einmal da zauderte er. Von Zeit zu Zeit sah er rote Augen in der Dunkelheit; sie waren stets vor ihm und führten ihn stets weiter.
Später nahmen seine Sinne frischere Luft wahr, er sputete sich so sehr, daß er einmal das Gleichgewicht verlor, von der Haube eines Autos herunterfiel und sich den Kopf schmerzhaft an der Stoßstange des nächsten anschlug. Wenig später sah er auf und erblickte wieder Sterne über sich, die jetzt vor der einsetzenden Dämmerung verblaßten. Er war draußen.
Seine Wächter waren verschwunden. Aber Mülleimer sank auf die Knie und sprach ein langes, wirres und zusammenhangloses Dankgebet. Er hatte die Hand des dunklen Mannes am Werk gesehen, und zwar überdeutlich.
Trotz allem, was er durchgemacht hatte, seit er vergangenen Morgen aufgewacht war und gesehen hatte, wie Kid seine Frisur im Fenster des Zimmers im Golden Motel bewunderte, war Müll so aufgekratzt, daß er nicht schlafen konnte. Statt dessen ging er weiter und liess den Tunnel hinter sich. Der Verkehr hatte sich auch auf der Westseite des Tunnels gestaut, aber nach zwei Meilen dünnte er soweit aus, daß man bequem gehen konnte. Jenseits des Mittelstreifens, auf den Fahrspuren nach Osten, erstreckte sich der Strom der Fahrzeuge, die den Tunnel passieren wollten, endlos. Am Nachmittag kam er vom Vail-Paß herunter nach Vail selbst und ging an den Wohnhäusern und Apartmentblocks für Singles vorbei. Inzwischen hatte die Müdigkeit ihn fast überwältigt. Er schlug ein Fenster ein, machte eine Tür auf und fand ein Bett. Dann wußte er bis zum frühen nächsten Morgen nichts mehr.