»Nein«, sagte der Mülleimermann. »Ich bin noch auf. Warum?«
Lloyd sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Es ist soweit, Mülli. Er will dich sehen. Flagg.«
»Er...?«
»Ja.«
Der Mülleimermann war gebannt. »Wo ist er ? Mein Leben für ihn, o ja...«
»Oberster Stock«, sagte Lloyd. »Er kam rein, als wir gerade Drogans Leichnam verbrannt hatten. Von der Küste. Er war da, als Whitey und ich vom Steinbruch zurückgekommen sind. Niemand sieht ihn je kommen oder gehen, Müll, aber man weiß immer, wenn er wieder fort ist. Oder wenn er zurückkommt. Los, gehen wir.«
Vier Minuten später kam der Fahrstuhl im obersten Stockwerk an, und der Mülleimermann stieg mit strahlendem Gesicht und rollenden Augen aus. Lloyd nicht.
Müll drehte sich zu ihm um. »Kommst du nicht...?«
»Nein, er will dich allein sprechen. Viel Glück, Müll.«
Und bevor er noch etwas sagen konnte, glitten die Fahrstuhltüren zu und Lloyd war weg.
Der Mülleimermann drehte sich um. Er stand in einer geräumigen, prächtigen Halle. Es gab nur zwei Türen... und die am Ende ging langsam auf. Drinnen war es dunkel. Aber Müll sah eine Gestalt in der Tür stehen. Und Augen. Rote Augen.
Mit langsam in der Brust klopfendem Herzen und einem trockenen Gefühl im Mund ging der Mülleimermann dieser Gestalt entgegen. Dabei schien die Luft immer kälter und kälter zu werden. Gänsehaut bildete sich auf seinen von der Sonne verbrannten Armen. Irgendwo tief in seinem Innern drehte sich der Leichnam von Donald Merwin Elbert in seinem Grab herum und schien zu schreien. Dann war es wieder still.
»Der Mülleimermann«, sagte eine tiefe und angenehme Stimme.
»Wie gut, daß du gekommen bist. Sehr gut.«
Die Worte fielen ihm wie Staub aus dem Mund: »Mein... mein Leben für dich.«
»Ja«, sagte die Gestalt in der Tür begütigend. Die Lippen öffneten sich, das Grinsen entblößte weiße Zähne. »Aber ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird. Komm rein. Laß dich ansehen.«
Mit leuchtenden Augen und einem Gesicht so schlaff wie das eines Schlafwandlers trat der Mülleimermann ein. Die Tür ging zu; sie standen im Halbdunkel. Eine schrecklich heiße Hand schloß sich um Mülleimers eiskalte... und plötzlich fühlte er sich ganz ruhig. Flagg sagte: »In der Wüste gibt es Arbeit für dich, Müll. Großartige Arbeit. Wenn du willst.«
»Alles«, flüsterte der Mülleimermann. »Alles.«
Randall Flagg lehnte einen Arm um Mülls abgemagerte Schultern.
»Ich werde dich Feuer legen lassen«, sagte er. »Komm, wir trinken etwas und unterhalten uns darüber.«
Und am Ende wurde es ein gewaltiges Feuer.
49
Als Lucy Swann aufwachte, war es nach ihrer Pulsar-Damenuhr fünfzehn Minuten vor Mitternacht. Im Westen, wo die Berge lagen, blitzte Wetterleuchten auf - die Rocky Mountains, dachte sie ehrfürchtig. Vor dieser Reise war sie nie weiter westlich als Philadelphia gewesen, wo ihr Schwager lebte. Gelebt hatte. Die andere Hälfte des Doppelschlafsacks war leer; das hatte sie geweckt. Zuerst wollte sie sich umdrehen und weiterschlafen - er würde schon zurückkommen, wenn er fertig war -, aber dann stand sie auf und ging langsam zur Westseite des Lagers, wo sie ihn vermutete. Sie ging leise, ohne eine Menschenseele zu stören. Außer den Richter natürlich; seine Wache war von zehn Uhr bis Mitternacht, und Richter Farris schlief nie im Dienst. Der Richter war siebzig und hatte sich ihnen in Joliet angeschlossen. Sie waren jetzt neunzehn, fünfzehn Erwachsene, drei Kinder und Joe.
»Lucy?« sagte der Richter mit leiser Stimme.
»Ja. Haben Sie...«
Ein leises Kichern. »Aber ja. Er ist draußen am Highway. Genau dort, wo er gestern und vorgestern nacht war.«
Sie ging näher zu ihm und sah, daß er die Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß hielt. »Richter, Sie werden sich die Augen verderben.«
»Unsinn. Sternenlicht ist das beste Licht dafür. Vielleicht sogar das einzige. Wie gefällt Ihnen dies? Muß nicht der Mensch immer im Streit sein auf Erden, und sind seine Tage nicht wie eines Tagelöhners? Wie ein Knecht sich sehnet nach dem Schatten und ein Tagelöhner nach dem Lohn seiner Arbeit. Also habe ich wohl ganze Monden vergeblich gearbeitet, und elender Nächte sind mir viel geworden. Wenn ich mich legte, sprach ich: Wann werde ich aufstehen? Und der Abend ward mir lang; ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.«
»Wahnsinn«, sagte Lucy ohne große Begeisterung. »Sehr schön, Richter.«
»Es ist nicht schön, es ist Hiob. Im Buch Hiob steht nichts Schönes, Lucy.« Er schlug die Bibel zu. »>Ich wälzte mich und wurde des satt bis zur Dämmerung.< Das ist Ihr Mann, Lucy. Das ist haargenau Larry Underwood.«
»Ich weiß«, sagte sie und seufzte. »Wenn ich nur wüßte, was mit ihm los ist.«
Der Richter, der seine Vermutungen hatte, schwieg.
»Die Träume können es nicht sein«, sagte sie. »Die hat keiner mehr, außer vielleicht Joe. Und Joe ist... anders.«
»Ja. Das ist er. Armer Kerl.«
»Und alle sind gesund. Jedenfalls seit Mrs. Vollman gestorben ist.«
Zwei Tage nachdem der Richter zu ihnen gestoßen war, hatte sich ein Paar, das sich als Dick und Sally Vollman vorstellte, zu Larry und seiner zusammengewürfelten Schar Überlebender gesellt. Lucy hielt es für höchst unwahrscheinlich, daß die Grippe einen Mann und dessen Frau verschont haben sollte, und sie vermutete, daß ihre Ehe wild war und noch nicht lange dauerte. Sie waren um die Vierzig und offensichtlich sehr verliebt. Dann war Sally Vollman vor einer Woche im Haus der alten Frau in Hemingford Home krank geworden. Sie hatten zwei Tage kampiert und hilflos darauf gewartet, daß sie wieder gesund würde oder starb. Sie war gestorben. Dick Vollman war immer noch bei ihnen, aber er war nicht mehr derselbe - er war schweigsam, nachdenklich, blaß.
»Das hat er sich zu Herzen genommen, richtig?« fragte sie Richter Farris.
»Larry ist ein Mann, der relativ spät im Leben zu sich selbst gefunden hat«, sagte der Richter und räusperte sich. »Wenigstens kommt mir das so vor. Männer, die spät zu sich selbst finden, bleiben unsicher. Sie sind all das, was ein guter Bürger nach den bürgerlichen Vorstellungen sein sollte; sie ergreifen Partei, sind aber niemals Fanatiker; sie respektieren in jeder Situation die Tatsachen, verändern sie aber nie; fühlen sich in Führungspositionen unwohl, können aber selten Verantwortung ablehnen, wenn sie ihnen übertragen ... oder aufgedrängt wird. In einer Demokratie sind sie die geeignetsten Führer, denn es ist unwahrscheinlich, daß sie sich in die Macht verlieben. Im Gegenteil. Und wenn etwas schiefgeht... wenn eine Mrs. Vollman stirbt... Könnte es Diabetes gewesen sein?« unterbrach der Richter seinen eigenen Gedankengang. »Möglich. Verfärbte Haut, das rasche Koma... möglich, möglich. Aber wenn ja, wo war ihr Insulin? Hat sie vielleicht sogar sterben wollen? Könnte es Selbstmord gewesen sein?«
Der Richter machte eine Denkpause und faltete die Hände unterm Kinn. Er sah aus wie ein großer, brütender schwarzer Raubvogel.
»Sie wollten sagen, was passiert, wenn etwas schiefgeht«, drängte Lucy sanft.
»Wenn etwas schiefgeht - wenn eine Sally Vollman an Diabetes oder inneren Blutungen oder was auch immer stirbt -, gibt ein Mann wie Larry sich selbst die Schuld. Der Mann, den Schulbücher vergöttern, nimmt selten ein gutes Ende. Melvin Purvis, der Super-FBI-Agent der dreißiger Jahre, erschoß sich 1959 mit seiner eigenen Dienstpistole. Als Lincoln ermordet wurde, war er ein vor seiner Zeit gealterter Mann am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Wir haben im Fernsehen beobachten können, wie Präsidenten vor unseren Augen verfielen, von Monat zu Monat, sogar von Woche zu Woche - außer natürlich Nixon, der von Macht gediehen ist wie ein Vampir vom Blut seiner Opfer, und Reagan, der wohl einfach ein bißchen zu dumm war, um alt zu werden. Ich glaube, mit Gerald Ford war es genauso.«