Zwanzig Minuten nachdem Larry Underwood und Lucy Swann ins Lager zurückgekommen waren und zehn Minuten nach ihrem zögernden Liebesakt, als sie schon wieder schliefen, wachte Nadine wie eine Katze im Dunkeln auf.
Der schrille Ton des Entsetzens erklang in ihren Adern.
Jemand will mich, dachte sie und lauschte ihrem Herzschlag, der sich langsam normalisierte. Ihre Augen, weit aufgerissen und voll Dunkelheit, starrten nach oben, wo die überhängenden Zweige einer Ulme Schatten an den Himmel zeichneten. So ist es. jemand will mich. Es stimmt.
Aber... es ist so kalt.
Ihre Eltern und ihr Bruder waren bei einem Autounfall umgekommen, als sie sechs Jahre alt war; sie war an jenem Tag nicht mitgefahren, Onkel und Tante besuchen, sondern zu Hause geblieben, um mit ihrer Freundin zu spielen. Sie hatten ihren Bruder sowieso lieber gehabt, das wußte sie noch. Der Bruder war nicht so wie siegewesen, kein kleiner Wechselbalg, den sie im Alter von viereinhalb Monaten aus der Krippe eines Waisenhauses gestohlen hatten. Bruders Herkunft war klar. Bruder war - Fanfaren, bitte - ihr Eigenes. Aber Nadine hatte immer und ewig nur Nadine gehört. Sie war das Kind der Erde.
Nach dem Unfall zog sie zu Tante und Onkel, weil sie die einzigen Verwandten waren. In die White Mountains im Osten von New Hampshire. Sie konnte sich noch erinnern, wie die beiden an ihrem achten Geburtstag mit ihr in der Zahnradbahn auf den Mount Washington fuhren, sie in der Höhenluft Nasenbluten bekam und sie böse mit ihr gewesen waren. Tante und Onkel waren zu alt, sie waren Mitte Fünfzig gewesen, als sie sechzehn wurde, in dem Jahr, als sie unter dem Mond durch das taufeuchte Gras gerannt war - die Nacht des Weins, als Träume aus der dünnen Luft kondensierten wie die nächtliche Milch der Phantasie. Eine Liebesnacht. Und wenn der Junge sie eingeholt hätte, wäre sie bereit gewesen, ihm den Preis zu geben, den sie zu geben hatte, und was machte es schon aus, ob er sie einholte? Sie waren gerannt, war das nicht das wichtigste? Aber er hatte sie nicht eingeholt. Eine Wolke hate sich vor den Mond geschoben. Der Tau fühlte sich naßkalt, unangenehm und beängstigend an. Der Geschmack des Weins in ihrem Mund war sauer geworden. Eine Art Verwandlung hatte stattgefunden, ein Gefühl, daß sie warten sollte, warten mußte.
Und wo war er damals gewesen, ihr vorbestimmter, ihr dunkler Bräutigam? Auf welchen Straßen, welchen Gassen in der Dunkelheit der Vorstadt draußen, während drinnen das spröde Klirren des Cocktailgeplauders die Welt in hübsche, rationale Sektionen einteilte? Welche kalten Winde trieben ihn? Wie viele Stangen Dynamit waren in seinem abgewetzten Rucksack? Wer wußte, wie sein Name lautete, als sie sechzehn war? Wie uralt er war? Wo seine Heimat lag? Welche Mutter ihn an die Brust gedrückt hatte? Sie wußte nur, daß er eine Waise war, genau wie sie, und seine Zeit noch kommen würde. Er ging größtenteils auf Straßen, die noch nicht gebaut waren, während sie nur einen Fuß auf eben diesen Straßen hatte. Die Kreuzung, an der sie sich treffen würden, lag noch weit voraus. Er war Amerikaner, das wußte sie, ein Mann, der Milch und Apfelkuchen mochte, der die schlichte Schönheit von etwas Rotkariertem oder Baumwollenem zu würdigen wußte. Seine Heimat war Amerika, und seine Wege waren die geheimen Wege, die verborgenen Straßen, die Verbindungswege unter der Erde, wo die Richtungen in Runen geschrieben sind. Er war der andere Mann, das andere Gesicht, der Hartgesottene, der dunkle Mann, der wandelnde Geck, dessen abgetretene Absätze in lauen Sommernächten über stille Wege klapperten.
Wer weiß, wann der Bräutigam kommt?
Sie hatte auf ihn gewartet, ein unberührtes Gefäß. Mit sechzehn wäre sie fast gefallen, und noch einmal am College. Aber beide Jungen waren wütend und verwirrt weggegangen, wie Larry jetzt, sie hatten die Kreuzwege in ihr gespürt, die Ahnung jenes vorherbestimmten mystischen Treffpunkts.
Boulder war der Ort, wo die Straßen auseinanderliefen. Die Zeit war nahe. Erhatte gerufen, sie zu sich befohlen. Nach dem College hatte sie sich in ihre Arbeit vergraben, hatte mit zwei anderen Mädchen ein Haus gemietet. Was für zwei Mädchen? Nun, sie kamen und gingen. Nur Nadine blieb, und sie war freundlich zu den jungen Männern, die ihre wechselnden Mitbewohnerinnen nach Hause brachten, aber sie selbst hatte nie einen jungen Mann. Wahrscheinlich redeten sie über sie, nannten sie eine künftige alte Jungfer, hielten sie vielleicht sogar für eine heimliche Lesbierin. Das stimmte nicht. Sie war nur...
Unberührt.
Wartend.
Manchmal war es ihr vorgekommen, als würde sich eine Veränderung anbahnen. Wenn sie am Ende des Tages im stillen Klassenzimmer Spielzeug wegräumte, blieb sie manchmal plötzlich stehen, mit flackernden und wachen Augen und vielleicht einem Kastenteufel achtlos in der Hand. Und dann dachte sie: Eine Veränderung wird kommen... ein großer Wind wird wehen.Manchmal, wenn sie diesen Gedanken hatte, sah sie wie eine Verfolgte über die Schulter. Dann verschwand der Gedanke, und sie lachte unsicher.
Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war ihr Haar allmählich grau geworden - dem Jahr, als sie gejagt, aber nicht eingeholt wurde -, zuerst nur ein paar Strähnen, die in dem Schwarz erschreckend deutlich sichtbar waren, und nicht grau, nein, das war das falsche Wort... weiß, sie waren weiß.
Jahre später hatte sie im Kellerraum des Hauses einer Studentenverbindung an einer Party teilgenommen. Das Licht war schummrig gewesen, und nach einiger Zeit waren die Leute paarweise auf den Zimmern verschwunden. Viele Mädchen - unter ihnen Nadine - hatten sich für die Nacht von ihren Internatshäusern beurlauben lassen. Sie hatte damals vollauf beabsichtigt, es hinter sich zu bringen... aber etwas, das noch unter Monaten und Jahren begraben lag, hatte sie zurückgehalten. Und am nächsten Morgen, im kalten Licht um sieben Uhr früh, hatte sie sich im Badezimmer des Internats in einem der vielen Spiegel betrachtet und gesehen, daß das Weiß scheinbar über Nacht zugenommen hatte - obwohl das natürlich unmöglich war.
Und so waren die Jahre vergangen, waren dahingetickt wie Jahreszeiten in einem trockenen Zeitalter, und sie hatte Gefühle gehabt, ja, Gefühle, und manchmal war sie im toten Grab der Nacht heiß und kalt zugleich erwacht, schweißgebadet, auf lustvolle Weise lebendig und sich in der Kuhle ihres Bettes ihrer selbst bewußt, und dann hatte sie auf Gossenweise an unheimlichen dunklen Sex gedacht. Sich in heißer Flüssigkeit gewälzt. War gekommen und hatte gebissen, gleichzeitig. Und am Morgen danach hatte sie in den Spiegel geblickt und sich eingebildet, daß sie mehr Weiß sah. Diese Jahre hindurch war sie äußerlich nur Nadine Cross gewesen: lieb, gut zu den Kindern, gut in ihrer Arbeit, alleinstehend. Früher hätten solche Frauen in der Gemeinschaft Neugier und dumme Bemerkungen auf sich gezogen, aber die Zeiten hatten sich geändert. Und ihre Schönheit war so einmalig, daß es für sie irgendwie genau richtig erschien, so und nicht anders zu sein.
Und jetzt änderten die Zeiten sich wieder.
Jetzt kam die Veränderung, und in ihren Träumen lernte sie ihren Bräutigam kennen, lernte ihn ein wenig verstehen, obwohl sie nie sein Gesicht gesehen hatte. Er war derjenige, auf den sie gewartet hatte. Sie wollte zu ihm gehen... und wollte es doch wieder nicht. Sie war für ihn bestimmt, aber ihr graute vor ihm.
Dann war Joe gekommen und nach ihm Larry. Damit war alles äußerst kompliziert geworden. Sie fühlte sich wie der Preisring bei einem Wettbewerb im Tauziehen. Sie wußte, daß ihre Reinheit, ihre Jungfräulichkeit für den dunklen Mann irgendwie wichtig war. Wenn sie sich Larry hingab (oder einem anderen Mann), war der dunkle Zauberbann gebrochen. Und sie fühlte sich zu Larry hingezogen.
Sie hatte sich ihm bewußt hingeben, hatte es wieder einmal hinter sich bringen wollen. Sollte er sie haben, sollte es vorbei sein, sollte alles vorbei sein. Sie war müde, und Larry war richtig. Sie hatte zu lange auf den anderen gewartet, zu vi ele trockene Jahre lang.