Aber Larry war nichtrichtig... schien es jedenfalls anfangs. Sie hatte seine ersten Avancen mit einer Art Verachtung abgetan, so wie eine Mähre eine Fliege mit dem Schweif verscheuchen mochte. Sie erinnerte sich, wie sie gedacht hatte: Wenn er nicht mehr zu bieten hat, wer kann mir zum Vorwurf machen, daß ich seinen Antrag ablehne?
Aber sie war ihm gefolgt. Das war eine Tatsache. Doch sie hatte sich verzweifelt gesehnt, andere Menschen zu finden, nicht nur wegen Joe, sondern weil sie schon fast soweit gewesen war, den Jungen zu verlassen und auf eigene Faust nach Westen zu gehen, um den Mann zu finden. Nur jahrelanges Pflichtgefühl gegenüber den Kindern, die ihrer Obhut anvertraut worden waren, hatte sie daran gehindert, das zu tun... und das Wissen, daß Joe auf sich allein gestellt sterben würde.
In einer Welt, in der so viele gestorben sind, ist es sicher die größte Sünde, weiteres Sterben herbeizuführen.
Und so war sie mit Larry gegangen, der immerhin besser als nichts oder niemand war.
Aber wie sich herausstellte, war viel mehr als nichts oder niemand an Larry Underwood dran, er war wie ein optische Täuschung (vielleicht sogar für sich selbst), wo das Wasser seicht aussieht, nur drei, vier Zentimeter tief, aber wenn man die Hand hineinstreckt, ist der Arm plötzlich bis zur Schulter naß. Wie er Joes Zuneigung gewonnen hatte, war eines. Wie Joe auf ihn ansprach, etwas anderes, und ihre wachsende Eifersucht auf die Beziehung zwischen Joe und Larry das dritte. In der Motorradvertretung in Wells hatte Larry dem Jungen die Finger beider Hände anvertraut und gewonnen.
Hätten sie nicht ihre volle Aufmerksamkeit auf den Deckel über dem Benzintank konzentriert, hätten sie sehen können, wie sie vor Überraschung den Mund aufklappte. Sie hatte dagestanden und sie beobachtet, hatte sich nicht bewegen können, den Blick einzig auf das helle Metall der Brechstange gerichtet und darauf gewartet, dass sie erst wackeln und dann wegkippen würde. Erst als es vorbei war, wurde ihr klar, daß sie auf die Schreie gewartet hatte. Der Deckel war offen und beiseite geklappt, und sie erkannte ihre Fehleinschätzung, einen geradezu fundamentalen Fehler ihrerseits. In diesem Fall hatte er Joe besser gekannt als sie, ohne besondere Ausbildung und schon nach kürzester Zeit. Sie begriff nur intuitiv, wie bedeutend der Vorfall mit der Gitarre gewesen war, wie schnell und grundlegend dieser Larrys Beziehung zu Joe bestimmt hatte. Und was lag im Mittelpunkt dieser Beziehung?
Selbstverständlich Abhängigkeit - was sonst hätte diesen plötzlichen Stromstoß der Eifersucht durch ihren ganzen Körper jagen können? Wenn Joe von Larry abhängig gewesen wäre, dann wäre das eine Sache gewesen, normal und akzeptabel. Sie war beunruhigt, weil Larry auch von Joe abhängig war und Joe auf eine Weise brauchte, wie sie nicht... und Joe wußte es.
Hatte sie Larrys Charakter falsch eingeschätzt? Jetzt glaubte sie, daß die Antwort darauf ja lautete. Dieses nervöse, selbstsüchtige Äußere war eine Larve, die vom vielen Gebrauch abgenutzt wurde. Allein die Tatsache, daß er sie während dieser weiten Reise alle zusammengehalten hatte, sprach für seine Entschlossenheit. Die Schlußfolgerung schien klar. Hinter der Entscheidung, mit Larry zu schlafen, war ein Teil von ihr immer noch diesem anderen Mann verpflichtet... und wenn sie mit Larry schlief, war das, als würde sie diesen Teil für immer abtöten. Sie war nicht sicher, ob sie das konnte.
Und inzwischen war sie nicht mehr die einzige, die von dem dunklen Mann träumte.
Das hatte sie erst beunruhigt, dann geängstigt. Als sie es mit Joe und Larry zu tun gehabt hatte, war es Angst gewesen; als sie Lucy Swann getroffen hatten und diese behauptete, sie habe dieselben Träume gehabt, wurde die Angst zu einer Art rasendem Entsetzen. Sie konnte sich nicht länger einreden, daß deren Träume sich nur wie ihre anhörten. Und wenn alle Überlebenden sie hatten? Wenn die Zeit des dunklen Mannes endlich gekommen war - nicht nur für sie, sondern für alle, die noch auf diesem Planeten lebten?
Mehr als alles andere löste dieser Gedanke widerstreitende Empfindungen von höchstem Entsetzen und starker Anziehung in ihr aus. Sie hatte sich fast panisch an den Gedanken an Stovington geklammert. Es stand allein durch die Natur seiner Funktion als Symbol der Normalität und Vernunft gegen die ansteigende Flut dunkler Magie ringsum. Aber Stovington war verlassen, ein Hohn auf den sicheren Hort, zu dem sie es in ihren Vorstellungen gemacht hatte. Das Symbol von Normalität und Vernunft, ein Totenhaus.
Während sie nach Westen fuhren und weitere Überlebende um sich scharten, war die Hoffnung, es könnte ohne Konfrontation für sie enden, erloschen. Sie erlosch, und Larry stieg in ihrer Wertschätzung. Er schlief jetzt mit Lucy Swann, aber was machte das schon? Über sie war entschieden. Die anderen hatten zwei entgegengesetzte Träume gehabt: der dunkle Mann und die alte Frau. Die alte Frau schien, genau wie der dunkle Mann, eine Art elementare Kraft zu verkörpern. Die alte Frau war der Kern, um den sich die anderen allmählich sammelten.
Nadine hatte nie von ihr geträumt.
Nur von dem dunklen Mann. Und während die Träume der anderen plötzlich so unerklärlich verblaßten, wie sie gekommen waren, schienen ihre eigenen an Kraft und Klarheit zuzunehmen. Sie wußte vieles, was die anderen nicht wußten. Der dunkle Mann hieß Randall Flagg. Diejenigen im Westen, die sich ihm widersetzt oder gegen sein Vorgehen Einwände erhoben hatten, waren entweder gekreuzigt oder irgendwie wahnsinnig gemacht und in den kochenden Hexenkessel des Death Valley geschickt worden. In San Francisco und Los Angeles gab es kleinere Gruppen von technisch versierten Leuten, aber das war nur vorübergehend; bald würden sie sich nach Las Vegas begeben, wo sich die Hauptmacht seiner Leute konzentrierte. Er hatte keine Eile. Der Sommer neigte sich dem Ende zu. Bald würden die Pässe der Rocky Mountains einschneien, und es gab zwar Schneepflüge, um sie freizumachen, aber nicht genügend warme Leiber, um die Pflüge zu bemannen. Ein langer Winter würde folgen, in dem sie sich konsolidieren konnten. Und im nächsten April... oder Mai...
Nadine lag im Dunkeln und sah zum Himmel empor.
Boulder war ihre letzte Hoffnung. Die alte Frau war ihre letzte Hoffnung. Die Normalität und Vernunft, die sie in Stovington zu finden gehofft hatte, schien sich in Boulder abzuzeichnen. Sie waren die Guten, dachte sie, die Guten; könnte es doch auch für sie so einfach sein, die sie sich in einem verrückten Netz widerstreitender Begierden verfangen hatte.
Über allem erklang wie ein vorherrschender Akkord ihr fester Glaube, daß Mord in einer so dezimierten Welt die schwerste Sünde war, und ihr Herz sagte ihr deutlich und bestimmt, daß der Tod Randall Flaggs Geschäft war. Aber oh, wie sehnte sie sich nach seinem kalten Kuß - viel mehr als nach den Küssen des Jungen von der High School oder des Jungen vom College... mehr sogar, fürchtete sie, als nach Larry Underwoods Küssen und Umarmungen.
Morgen werden wir in Boulder sein, dachte sie. Vielleicht werde ich dann wissen, ob die Reise zu Ende ist oder...
Eine Sternschnuppe zog ihre Feuerspur am Himmel, und wie ein kleines Kind wünschte sie sich etwas.
50
Die Dämmerung kam und malte den östlichen Himmel in zarten Rosatönen. Stu Redman und Glen Bateman hatten den Flagstaff Mountain in West Boulder, wo die ersten Vorgebirge der Rockies sich wie eine Vision der Vorgeschichte aus der Ebene erheben, halb erklommen. Im Licht der Dämmerung fand Stu, daß die Pinien, welche zwischen den nackten und fast lotrechten Felswänden wuchsen, wie die Adern einer Riesenhand aussahen, die aus der Erde herausgriff. Irgendwo im Osten versank Nadine Cross endlich in einen leichten, unbefriedigenden Schlaf.
»Ich werde heute nachmittag Kopfschmerzen bekommen«, sagte Glen. »Ich glaube, ich habe seit dem College keine ganze Nacht mehr durchgetrunken.«
»Der Sonnenaufgang ist es wert«, sagte Stu.
»Das stimmt. Wunderschön. Warst du vorher schon einmal in den Rockies?«