Laut Ralph war im Kraftwerk kein erheblicher Schaden entstanden, jedenfalls kein sichtbarer. Das Personal hatte einige Maschinen abgestellt, andere hatten sich selbsttätig ausgeschaltet. Zwei oder drei große Turbinenmotoren waren durchgeschmort, wahrscheinlich als Folge eines letzten starken Stromstoßes. Ralph sagte, ein paar Kabel müßten ausgewechselt werden, aber er dachte, er und Brad Kitchner und ein Team von einem Dutzend Männern könnten das hinkriegen. Ein weitaus größerer Arbeitstrupp war erforderlich, um verschmorte, schwarze Kupferleitungen aus den durchgebrannten Motoren zu entfernen und meterweise neuen Kupferdraht einzuziehen. In den Großhandlungen in Denver lag genügend Kupferdraht bereit; Ralph und Brad waren letzte Woche einen Tag dort gewesen und hatten sich selbst vergewissert. Mit genügend Arbeitskräften glaubten sie, den Strom bis zum Labor Day wieder einschalten zu können.
»Und dann feiern wir die größte Party, die diese verdammte Stadt je gesehen hat«, sagte Brad.
Recht und Gesetz. Das war auch etwas, was ihm Sorgen machte. Konnte man Stu Redman diese Last aufbürden? Er würde den Job nicht wollen, aber Nick glaubte, er könnte Stu dazu überreden... und wenn es hart auf hart ging, würde er Stus Freund Glen bitten, ihm zu helfen. Was ihn wirklich quälte, war die noch zu frische und schmerzliche Erinnerung an seine eigene kurze und schlimme Zeit als Kerkermeister von Shoyo, an die er lieber nicht denken mochte. Vince und Billy im Sterben, Mike Childress, der wie wild immer auf sein Essen sprang und trotzdem schrie: Hungerstreik! Ich trete in den Hungerstreik!
Der Gedanke, daß sie vielleicht Gerichte und Gefängnisse brauchen würden und womöglich sogar einen Henker, tat ihm im Innersten weh. Herrgott, es waren Mutter Abagails Leute, nicht die des dunklen Mannes! Aber er vermutete, daß sich der dunkle Mann nicht mit trivialen Dingen wie Gerichten und Gefängnissen abgeben würde. Seine Strafen waren schnell und wirksam und schwer. Er mußte nicht mit dem Gefängnis drohen, wenn die Leichen an der 115 an Kreuzen aus Telegrafenmasten hingen - ein Fressen für die Vögel. Nick hoffte, daß es nur zu geringfügigen Übertretungen kommen würde. Es hatte schon einige Fälle von Trunkenheit und Randaliererei gegeben. Ein Junge, der zu jung zum Fahren war, war mit einem schweren Schlepper den Broadway auf- und abgefahren und hatte die Leute von der Straße gescheucht. Zuletzt war er auf einen parkenden Bäckereiwagen gefahren und hatte sich die Stirn aufgeschlagen - und hatte noch Glück gehabt, daß er so glimpflich davongekommen war, fand Nick. Die Leute, die ihn gesehen hatten, wußten, daß er zu jung war, aber keiner hatte sich befugt gefühlt, ihn aufzuhalten.
Autorität. Organisation.Er schrieb diese Worte auf einen Block und kreiste sie zweimal ein. Daß sie Mutter Abagails Leute waren, machte sie nicht immun gegen Schwäche, Dummheit oder schlechte Gesellschaft. Nick wußte nicht, ob sie die Kinder Gottes waren oder nicht, aber als Moses vom Berg herabgekommen war, hatten diejenigen, die nicht gerade das goldene Kalb anbeteten, emsig Würfel gespielt, das wußte er. Und sie mußten mit der Möglichkeit rechnen, daß irgend jemand beim Kartenspiel erstochen wurde oder jemanden wegen einer Frau erschoß.
Autorität. Organisation. Er kreiste die Worte noch einmal ein, und jetzt sahen sie wie Gefangene hinter einer dreifachen Umzäunung aus. Wie gut sie zueinander paßten... und wie traurig sie klangen.
Wenig später kam Ralph herein. »Morgen kommen wieder ein paar Leute, Nicky, und übermorgen eine ganze Prozession. Die zweite Gruppe besteht aus mehr als dreißig Leuten.«
»Gut«, schrieb Nick. »Ich wette, früher oder später bekommen wir auch einen Arzt. Behauptet das Gesetz der Wahrscheinlichkeit.«
»Ja«, sagte Ralph. »Wir werden zu einer regelrechten Stadt.«
Nick nickte.
»Ich habe mit dem Burschen gesprochen, der die heutige Gruppe angeführt hat. Sein Name ist Larry Underwood. Kluger Mann, Nick. Messerscharf. «
Nick zog die Brauen hoch und zeichnete ein »?« in die Luft.
»Nun, mal sehen«, sagte Ralph. Er wußte, was das Fragezeichen bedeutete: gib mir mehr Informationen, wenn du kannst. »Ich glaube, er ist sechs oder sieben Jahre älter als du, und vielleicht acht oder neun jünger als Redman. Aber er ist der Typ Mann, nach dem wir, wie du gesagt hast, Ausschau halten sollen. Er stellt die richtigen Fragen.«
»?«
»Zunächst einmal, wer das Sagen hat«, antwortete Ralph. »Dann, was als nächstes kommt. Drittens, wer es macht.«
Nick nickte. Ja - die richtigen Fragen. Aber war er der richtige Mann? Ralph konnte recht haben. Aber vielleicht auch nicht.
»Ich will versuchen, morgen zu ihm zu gehen & Hallo zu sagen«, schrieb er auf ein frisches Blatt Papier.
»Ja, das solltest du. Er ist in Ordnung.« Ralph trat von einem Bein aufs andere. »Und ich hab' mich ein wenig mit Mutter Abagail unterhalten, bevor dieser Underwood und seine Leute sich vorgestellt haben. Hab' mit ihr geredet, wie du gesagt hast.«
»?«
»Sie sagt, wir sollen weitermachen. Anfangen. Sie sagt, die Leute lungern herum und brauchen jemand, der ihnen sagt, was zu tun ist.«
Nick lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte stumm. Dann schrieb er: »Dachte mir, daß sie so denkt. Ich rede morgen mit Stu & Glen. Hast du die Handzettel gedruckt?«
»Oh! Die! Scheiße, ja«, sagte Ralph. »Herrgott, das habe ich fast den ganzen Nachmittag lang getrieben.« Er zeigte Nick ein Muster. Der Druck, der noch nach Matritzenspiritus roch, war groß und auffällig. Ralph hatte das Layout selbst gemacht:
MASSENVERSAMMLUNG!!!
NOMINIERUNG UND WAHL
DES REPRÄSENTANTENAUSSCHUSSES!
18. August 1990, 20:30 Uhr
Ort: Canyon Boulevard Park & Musikpavillon bei GUTEM
Chautauqua Hall im Chautauqua Park bei SCHLECHTEM Wetter.
IM ANSCHLUSS AN DIE VERSAMMLUNG
WERDEN ERFRISCHUNGEN GEREICHT
Darunter waren für Neuankömmlinge und Leute, die sich in Boulder noch nicht umgesehen hatten, zwei provisorische Stadtpläne gezeichnet. Darunter, in kleiner Schrift, die Namen, auf die er, Stu und Glen sich nach längerer Diskussion im Laufe des Tages geeinigt hatten:
Ad-hoc-Komitee
Nick Andros
Glen Bateman
Ralph Brentner
Richard Ellis
Fran Goldsmith
Stuart Redman
Susan Stern
Nick deutete auf die Zeile über die Erfrischungen und zog die Brauen hoch.
»Ach, ja, Frannie kam vorbei und sagte, die Leute würden eher kommen, wenn wir ihnen etwas anbieten. Sie und ihre Freundin Patty Kroger wollen sich darum kümmern. Kuchen und Za-Rex.«
Ralph verzog das Gesicht. »Wenn ich die Wahl hätte, Za-Rex oder Bullenpisse zu saufen, müßte ich mich hinsetzen und nachdenken. Kannst meins haben, Nick.«
Nick grinste.
»Was mich wirklich stört«, fuhr Ralph ernsthafter fort, »ist, daß ihr mich in dieses Komitee steckt. Ich weiß, was das Wort bedeutet. Es bedeutet: >Herzlichen Glückwunsch, du mußt die ganze harte Arbeit machen.< Das würde mir nichts ausmachen, ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. Aber Komitees brauchen Einfälle, und damit hapert es bei mir.«
Nick zeichnete schnell ein CB-Funkgerät auf den Block und im Hintergrund einen Sendeturm, von dessen Spitze elektrische Blitze zuckten.