»Was du gesagt hast. Daß ich in der Klemme stecke. Schon, ein wenig, aber es ist nicht...«
Ihre Stimme war sofort kalt und streng. Sogar so kalt, daß er ein wenig Angst bekam. »Davon will ich nichts hören.«
»Okay«, sagte er. »Hör mal, Ma - welches ist das beste Kino hier in der Gegend?«
»Das Lux Twin«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, was sie gerade zeigen.«
»Das ist unwichtig. Weißt du, was ich denke? Drei Sachen bekommt man überall in Amerika, aber nur in New York City bekommt man sie richtig gut.«
»Ach ja, Mr. Kritiker der New York Times. Und das wären?«
»Filme, Baseball und Hot Dogs von Nedick's.«
Sie lachte. »Bist gar nicht so dumm, Larry - aber das warst du nie.«
Er ging also zur Herrentoilette. Und wusch sich das Blut von der Stirn. Und ging zurück und gab seiner Mutter noch einen Kuß. Und bekam fünfzehn Dollar aus ihrer prallen schwarzen Handtasche. Und ging ins Kino ins Lux. Und sah einen wahnsinnigen, bösen Killer namens Freddy Kruger, der eine Reihe Teenager in den Treibsand ihrer eigenen Träume zog, wo alle bis auf eine - die Heldin - starben.
Freddy Kruger schien am Ende auch zu sterben, aber das war schwer zu sagen, und da der Film eine römische Ziffer nach dem Titel hatte und gut besucht zu sein schien, dachte Larry, daß der Mann mit den Rasiermessern an den Fingerspitzen zurückkommen würde; er wußte nicht, daß das beharrliche Geräusch eine Reihe hinter ihm das Ende von allem bedeutete: Es würde keine Fortsetzung mehr geben, in kurzer Zeit würde es überhaupt keine Filme mehr geben.
In der Reihe hinter Larry hustete ein Mann.
12
In der Ecke des Salons stand eine Großvateruhr. Frannie Goldsmith hatte ihr ganzes Leben lang ihr gemessenes Tick und Tack gehört. Die Uhr faßte das ganze Zimmer zusammen, das Frannie nie gemocht hatte und das sie, an Tagen wie heute, regelrecht haßte.
Ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus war die Werkstatt ihres Vaters. Sie war im Schuppen, der Haus und Scheune verband. Man gelangte durch eine kleine Tür hinein, die kaum höher als einen Meter sechzig war und halb hinter dem Holzofen in der Küche verborgen lag. Schon die Tür war tolclass="underline" klein und fast versteckt, genau die nervenkitzelnde Art von Tür, die man in Märchen und FantasyGeschichten fand. Als Frannie älter und größer wurde, mußte sie sich bücken, genau wie ihr Vater - ihre Mutter ging nur dann in die Werkstatt, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Es war eine Tür wie aus Alice im 'Wunderland, und eine Zeitlang war ihr Lieblingsspiel, das sie sogar vor ihrem Vater verheimlichte, so zu tun, als ob sie eines Tages, wenn sie die Tür aufmachte, dahinter nicht mehr Peter Goldsmiths Werkstatt finden würde. Statt dessen würde sie einen unterirdischen Gang finden, der irgendwie vom Wunderland nach Hobbingen führen würde: ein niedriger, aber irgendwie gemütlicher Tunnel mit abgerundeten Erdmauern und einer Erddecke mit einem dichten Geflecht von Wurzeln, an denen man sich teuflisch den Kopf stoßen konnte, wenn man nicht aufpaßte. Ein Tunnel, der nicht nach nassem Boden und Feuchtigkeit und häßlichen Insekten und Würmern roch, sondern nach Zimt und gebackenem Apfelkuchen, ein Gang, der in der Küche von Beutelsend enden würde, wo Herr Bilbo Beutlin gerade seinen einundelfzigsten Geburtstag feierte...
Nun, der gemütliche Tunnel war nie dagewesen, aber der Frannie Goldsmith, die in diesem Haus groß geworden war, hatte die Werkstatt (die von ihrem Vater manchmal »Geräteschuppen« und von ihrer Mutter manchmal »die schmutzige Bude, wo dein Vater zum Biertrinken hingeht« genannt wurde) immer gereicht. Seltsame Werkzeuge und merkwürdige Gerätschaften. Eine riesige Kommode mit tausend Schubladen, und jede einzelne der tausend gerammelt voll. Nägel, Schrauben, Nieten, Schmirgelpapier (drei Sorten: rauh, rauher, am rauhesten), Hobel, Wasserwaagen und viele andere Gegenstände, die sie damals so wenig wie heute gekannt hatte. In der Werkstatt war es dunkel, abgesehen von einer 40-Watt-Birne voll Spinnweben, die am Kabel herunterhing, und dem grellen Lichtkreis der Tensor-Lampe, die stets dorthin gerichtet war, wo ihr Vater gerade arbeitete. Es roch nach Staub und Öl und Pfeifenrauch, und heute schien ihr, als müßte es eine Grundregel geben: jeder Vater mußte rauchen. Pfeife, Zigarre, Zigaretten, Marihuana, Hasch, Salatblätter, irgendwas. Denn der Geruch von Rauch schien integraler Bestandteil ihrer eigenen Kindheit zu sein.
Gib mir den Schraubenschlüssel, Frannie. Nein - den kleinen. Was hast du heute in der Schule gemacht?... Hat sie das wirklich?... Aber warum sollte Ruth Sears dich schubsen ? ...ja, schlimm. Ziemlich schlimmer Kratzer. Aber er paßt gut zur Farbe deines Kleides, findest du nicht? Wenn du doch nur Ruth Sears finden und dazu bringen könntest, dich noch mal zu schubsen, damit du dir das andere Bein aufschürfst. Dann hättest du ein Paar. Gib mir den großen Schraubenzieher, ja?... Nein, den mit dem gelben Griff.
»Frannie Goldsmith! Du kommst auf der Stelle aus diesem schmutzigen Loch heraus und ziehst deine Schulsachen aus! AUF DER ... STELLE! Du machst alles schmutzig!«
Auch heute noch, mit einundzwanzig, konnte sie sich unter dieser Tür hindurchducken, zwischen der Werkbank und dem alten BenFranklin-Ofen stehen, der im Winter diese unerträgliche Hitze abgab, und sich erinnern, wie es gewesen war, so eine kleine Frannie Goldsmith zu sein, die in diesem Haus aufwuchs. Es war ein illusorisches Gefühl, in das sich fast immer Trauer um ihren Bruder Fred mischte, dessen eigene Kindheit so brutal und unwiederbringlich beendet worden war. Sie konnte dastehen und das Öl riechen, das in alles eingezogen war, den Staub, den schwachen Geruch der Pfeife ihres Vaters. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wie es gewesen war, so klein zu sein, so seltsam klein, aber hier draußen gelang es ihr manchmal, und es war immer ein schönes, glückliches Gefühl.
Aber jetzt der Salon.
Der Salon.
Wenn die Werkstatt das Schöne der Kindheit verkörperte, symbolisiert durch den Phantomgeruch von ihres Vaters Pfeife (manchmal hatte er ihr behutsam Rauch ins Ohr gepustet, wenn sie Ohrenschmerzen hatte, aber immer erst, nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, daß sie Carla nichts sagen würde, die einen Schreikrampf bekommen hätte), dann war der Salon alles in der Kindheit, das man zu vergessen wünschte. Sprich nur, wenn du gefragt wirst. Kaputtmachen ist leichter als reparieren! Geh auf der Stelle nach oben und zieh dich um, weißt du nicht, daß sich das nicht gehört? Denkstdu eigentlich nie nach? Frannie, hör auf, an deinem Kleid herumzuzupfen, die Leute glauben ja, du hast Flöhe. Was sollen Onkel Andrew und Tante Arlene von dir denken? Ich habe mich deinetwegen fast zu Tode geschämt! Im Salon war einem der Mund verboten, im Salon juckte es einen und man durfte nicht kratzen, im Salon herrschten diktatorische Befehle, langweilige Unterhaltungen, Verwandte, die einen in die Wangen kniffen, Schmerzen, Niesen, das man nicht herausniesen durfte, Husten, den man nicht heraushusten konnte, und vor allem anderen Gähnen, das man nicht gähnen durfte.
Zentrum dieses Zimmers, wo der Geist ihrer Mutter vorherrschte, war die Uhr. Sie war im Jahre 1889 von Tobias Downes, Carlas Großvater, gebaut worden, und sie hatte fast auf der Stelle den Status eines Familienerbstücks bekommen, war über Jahre hinweg weitergereicht und stets sorgfältig verpackt und versichert worden, wenn sie von einem Landesteil zum anderen verschickt wurde (entstanden war sie ursprünglich in Buffalo, New York, in der Werkstatt von Tobias, einem Schuppen, der zweifellos genauso verraucht und schmutzig gewesen war wie Peters Werkstatt, auch wenn Carla eine diesbezügliche Bemerkung niemals hätte gelten lassen); und manchmal war sie von einem Zweig der Familie zu einem anderen gelangt, wenn Krebs, Herzschlag oder ein Unfall einen Ast des Familienstammbaums abgesägt hatten. In diesem Salon stand sie, seit Peter und Carla Goldsmith vor einunddreißig Jahren in dieses Haus gezogen waren, zwei Jahre vor Freds Geburt und zehn Jahre vor Frannies Geburt. Hier war sie aufgestellt worden, und hier war sie geblieben, hatte getickt und Segmente einer vertrockneten Zeit gemessen. Eines Tages würde die Uhr ihr gehören, wenn sie sie wollte, überlegte Frannie, während sie in das weiße, schockierte Gesicht ihrer Mutter sah. Aber ich will sie nicht!