»Nein, o nein«, sagte Frannie mit betroffener, leiser Stimme. Carla hielt eine Hand an die Wange und sah zu ihrem Mann auf.
»Das ist schon seit zehn Jahren oder länger fällig«, sagte Peter. Seine Stimme klang ein klein wenig unsicher. »Ich habe mir immer gesagt, daß ich es nicht mache, weil ich nicht zu denen gehöre, die Frauen schlagen. Immer noch nicht. Aber wenn jemand - Mann oder Frau - zum Hund wird und beißt, dann muß man ihn zur Vernunft bringen. Ich wünschte nur, Carla, ich hätte schon früher den Mut dazu aufgebracht. Wäre für uns beide nicht so schmerzhaft gewesen.«
»Daddy...«
»Still, Frannie«, sagte er mit geistesabwesender Strenge, und sie verstummte.
»Du sagst, daß sie egoistisch ist«, sagte Peter, der immer noch in das starre, schockierte Gesicht seiner Frau sah. »Dabei bist du diejenige. Du hast dich nicht mehr um Frannie gekümmert, seit Fred gestorben ist. Da hast du dir überlegt, daß es zu sehr weh tut, sich um jemanden zu kümmern, und hast beschlossen, nur noch für dich selbst zu leben. Und das hast du hier drinnen gemacht, immer und immer und immer wieder. In diesem Zimmer. Du hast dich deiner toten Familie gewidmet und den Teil vergessen, der noch lebt. Und ich wette, als Frannie hier hereinkam und dir gesagt hat, sie ist in Schwierigkeiten, dich um deine Hilfe gebeten hat, da hast du dir als erstes überlegt, was die Damen vom Blumen-und-Garten-Club wohl dazu sagen werden und ob du jetzt nicht zu Amy Lauders Hochzeit kannst. Schmerz ist ein Grund, sich zu ändern, aber aller Schmerz der Welt ändert nichts an den Tatsachen. Du bist egoistisch gewesen.«
Er streckte die Hand aus und half ihr hoch. Sie stand auf wie eine Schlafwandlerin. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht; die Augen waren immer noch groß und fassungslos. Die Unbarmherzigkeit stand noch nicht wieder darin, aber Frannie dachte düster, daß sie mit der Zeit schon zurückkehren würde. Ganz bestimmt.
»Es ist meine Schuld, weil ich es zugelassen habe. Weil ich keinen Ärger wollte. Weil ich keinen Staub aufwirbeln wollte. Weißt du, ich war auch egoistisch. Und als Fran zur Schule ging, da dachte ich mir: Gut, jetzt kann Carla machen, was sie will, und es wird nur ihr selbst weh tun, und wenn jemand nicht weiß, daß er jemandem weh tut, dann ist dem vielleicht auch nicht so. Ich habe mich geirrt. Ich habe mich schon häufig geirrt, aber noch nie so verheerend wie diesmal.« Er streckte sanft, aber mit großer Kraft die Hand aus und ergriff Carlas Schultern. »Also, ich sage dir das jetzt als dein Mann: Wenn Frannie eine Bleibe braucht, dann kann sie hier wohnen, wie immer. Wenn sie Geld braucht, bekommt sie es von mir - wie immer. Und wenn sie sich entschließt, das Baby zu bekommen, dann wirst du dafür sorgen, daß sie ein schönes Fest bekommt. Du denkst vielleicht, niemand kommt, aber sie hat Freunde, gute Freunde, und die werden kommen. Und ich will dir noch was sagen. Wenn sie es taufen lassen will, dann wird es hier getauft werden. Hier in diesem von Gott verfluchten Salon.«
Carlas Mund war aufgeklappt, und jetzt brachte sie einen Laut heraus. Zuerst hörte er sich beängstigend wie das Pfeifen eines Teekessels auf einer heißen Herdplatte an. Dann wurde es zu einem durchdringenden Wimmern.
»Peter, dein eigener Sohn lag in diesem Zimmer in seinem Sarg!«
»Ja. Und eben darum kann ich mir keinen besseren Ort vorstellen, ein neues Leben zu taufen«, sagte er. »Freds Blut. LebendesBlut. Fred, der ist seit fünfzehn Jahren tot, Carla. Er ist schon lange zu Futter für die Würmer geworden.«
Sie schrie los und hielt die Hände auf die Ohren. Er beugte sich nieder und zog ihre Hände weg.
»Aber die Würmer haben nicht deine Tochter und das Baby deiner Tochter. Es ist unwichtig, wie es empfangen wurde; es lebt. Du benimmst dich, als wolltest du sie aus dem Haus jagen, Carla. Und was hättest du dann? Nur noch dieses Zimmer und einen Mann, der dich haßt für das, was du getan hast. Wenn du das tust - dann hätten damals ebensogut alle drei sterben können, ich und Carla und Fred.«
»Ich will nach oben, mich hinlegen«, sagte Carla. »Mir ist schlecht. Ich lege mich besser hin.«
»Ich helfe dir«, sagte Frannie.
»Rühr mich nicht an. Bleib bei deinem Vater. Ihr beiden scheint das ja bestens eingefädelt zu haben. Ihr werdet mich in der Stadt unmöglich machen. Warum ziehst du nicht einfach in meinen Salon, Frannie? Wirf Dreck auf meinen Teppich, nimm Asche aus dem Herd und schütte sie in die Uhr. Warum nicht? Warum nicht?«
Sie fing an zu lachen und drängte sich an Peter vorbei in die Diele. Sie schwankte wie eine Betrunkene. Peter wollte ihr einen Arm um die Schulter legen. Sie fletschte die Zähne und fauchte ihn an wie eine Katze.
Während sie langsam die Treppe hinaufging, wurde ihr Gelächter zu Schluchzen, und sie mußte sich auf das Mahagonigeländer stützen; das Schluchzen hatte etwas Herzzerreißendes, Hilfloses an sich, so daß Frannie schreien und sich gleichzeitig übergeben wollte. Das Gesicht ihres Vaters hatte die Farbe schmutziger Bettwäsche. Oben drehte sich Carla um und schwankte so heftig, daß Frannie einen Moment fürchtete, sie würde stolpern und herunterstürzen. Sie sah sie an, als wollte sie etwas sagen, aber dann drehte sie sich wieder um. Einen Augenblick später dämpfte die Schlafzimmertür die Laute ihres Kummers und Schmerzes.
Frannie und Peter sahen einander bestürzt an, und die Großvateruhr tickte gleichgültig weiter.
»Das renkt sich wieder ein«, sagte Peter ruhig. »Sie fängt sich wieder.«
»Glaubst du wirklich?« fragte Frannie. Sie ging langsam zu ihrem Vater und lehnte sich an ihn; er legte den Arm um sie. »Ich glaube es nicht.«
»Vergiß es. Wir wollen jetzt nicht daran denken.«
»Ich sollte gehen. Sie will mich nicht hier haben.«
»Du solltest bleiben. Du solltest hier sein, wenn - falls sie sich besinnt und feststellt, daß sie dich immer noch hier braucht.« Pause.
»Ich jedenfalls brauche dich, Fran.«
»Daddy«, sagte sie und legte den Kopf an seine Brust. »O Daddy, es tut mir so leid, so furchtbar leid...«
»Still«, sagte er und strich ihr übers Haar. Er konnte über ihren Kopf hinweg das Licht der Abendsonne sehen, das staubig durch die Bogenfenster hereinfiel, wie immer, golden und still, so wie Licht in Museen und Leichenhallen fällt. »Still, Frannie. Ich hab' dich lieb. Ich hab' dich lieb.«
13
Das rote Licht ging an. Die Pumpe zischte. Die Tür öffnete sich. Der Mann, der den Raum betrat, trug keinen weißen Anzug, sondern einen kleinen, glänzenden Nasenfilter, der ein wenig an eine zweizinkige silberne Gabel erinnerte, wie die Kellnerin sie auf dem kalten Büffet läßt, damit man die Oliven aus dem Glas bekommt.
»Hi, Mr. Redman«, sagte er, während er durch den Raum schlenderte. Er streckte eine durch einen dünnen, durchsichtigen Gummihandschuh geschützte Hand aus, die Stu, vor Überraschung in die Defensive gedrängt, sofort ergriff. »Ich bin Dick Deitz. Denninger sagt, daß Sie nicht mehr mitspielen wollen, wenn Ihnen nicht jemand sagt, was Sache ist.«
Stu nickte.
»Gut.« Deitz setzte sich auf die Bettkante. Er war ein kleiner brauner Mann, und wie er da saß, die Ellbogen über den Knien angewinkelt, sah er aus wie ein Zwerg in einem Disney-Film. »Was wollen Sie wissen?«
»Ich glaube, als erstes will ich wissen, warum Sie keinen Raumanzug tragen.«
»Weil Geraldo dort sagt, daß Sie nicht ansteckend sind.« Deitz deutete auf ein Meerschweinchen hinter der Scheibe aus Doppelglas. Das Meerschweinchen saß in einem Käfig, und hinter dem Käfig stand mit ausdruckslosem Gesicht Denninger selbst.
»Geraldo, hm?«
»Geraldo hat seit drei Tagen via Konvektor die gleiche Luft wie Sie geatmet. Die Krankheit, die Ihre Freunde haben, wird leicht von Menschen auf Meerschweinchen übertragen, und umgekehrt. Wären Sie ansteckend, müßte Geraldo inzwischen nach menschlichem Ermessen tot sein.«
»Aber Sie gehen kein Risiko ein«, sagte Stu trocken und deutete mit dem Daumen auf den Nasenfilter.
»Das «, sagte Deitz mit einem zynischen Lächeln, »steht nicht in meinem Arbeitsvertrag.«