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Nick nickte und schrieb: »Ich kann auf mich aufpassen.«

»Das glaube ich auch. Trotzdem würde ich jemanden aus der Stadt holen, wenn ich nur einen wüßte, der...« Er verstummte, als Jane hereinkam.

»Hältst du dem armen Jungen immer noch eine Predigt? Laß ihn gehen, bevor mein dummer Bruder kommt und sie alle rausholt.«

Baker lachte bitter. «Der ist inzwischen wahrscheinlich schon in Tennessee.« Er stieß einen langen Seufzer aus, der in einen heftigen, verschleimten Hustenanfall überging. »Ich denke, ich geh' rauf und leg mich hin, Janey.«

»Ich bring' dir ein paar Aspirin gegen das Fieber«, sagte sie. Als sie ihren Mann zur Treppe begleitete, sah sie über die Schulter zu Nick. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Nick. Egal, unter welchen Umständen. Seien Sie nur so vorsichtig, wie er sagt.«

Nick machte eine Verbeugung, und sie deutete einen Knicks an. Er glaubte, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen.

Etwa eine halbe Stunde nachdem Nick im Gefängnis angekommen war, brachte ein komischer pickliger Kellnerlehrling mit schmutziger Jacke drei Portionen Essen. Nick deutete auf die Pritsche, und während der Junge das Essen dort abstellte, kritzelte Nick: »Ist es bezahlt?«

Der Kellnerlehrling las es mit der ganzen Konzentration eines Erstsemesterstudenten, der sich an Moby Dickwagt. »Klar«, sagte er.

»Das Sheriff-Büro hat bei uns ein Konto. Sag mal, kannst du nicht sprechen?«

Nick schüttelte den Kopf.

»Scheiße«, sagte der Junge und verschwand so schnell, als könnte der Zustand ansteckend sein.

Nick brachte ein Essen nach dem anderen in den Zellentrakt und schob es jeweils mit einem Besenstiel durch die Öffnung unten in der Tür.

Er sah auf und erkannte gerade noch »... feiger Scheißer, was?« von Mike Childress. Lächelnd zeigte Nick ihm den Mittelfinger.

»Ich werd' dir schon zeigen, was das heißt, Dödel«, sagte Childress und grinste unangenehm. »Wenn ich hier rauskomme, werde ich...«

Nick wandte sich ab und verzichtete auf den Rest.

Im Büro setzte er sich auf Bakers Stuhl, legte den Notizblock mitten auf die Schreibunterlage, dachte einen Augenblick nach und schrieb an den Rand:

Lebensgeschichte

von Nick Andros 

Er hielt inne und lächelte verhalten. Er war schon an seltsamen Orten gewesen, aber selbst in seinen wildesten Träumen hätte er sich nicht vorstellen können, eines Tages als Deputy im Büro eines Sheriffs zu sitzen, drei Männer zu bewachen, die ihn zusammengeschlagen hatten, und seine Lebensgeschichte zu schreiben. Nach einer Weile schrieb er weiter:

Ich wurde am 14. November 1968 in Caslin, Nebraska, geboren. Mein Daddy war selbständiger Farmer. Er und Mom standen immer am Rand der Pleite. Sie waren bei drei verschiedenen Banken verschuldet. Meine Mutter war sechs Monate schwanger mit mir, als mein Vater sie in die Stadt zum Arzt fuhr. Eine Spurstange brach, und der Pritschenwagen landete im Graben. Mein Vater hatte einen Herzanfall und starb.

Wie dem auch sei, meine Mutter brachte mich drei Monate später zur Welt, und ich wurde so geboren, wie ich bin: taubstumm. War sicher ein schwerer Schlag für sie, nachdem sie den Mann so plötzlich verloren hatte.

Sie bewirtschaftete die Farm bis 1973, dann verlor sie sie an die »Großmacker«, wie sie immer sagte. Sie hatte keine Verwandten, schrieb aber manchmal Freunden in Big Springs, lowa. Und einer dieser Freunde besorgte ihr einen Job in einer Bäckerei. Wir lebten dort, bis sie 1977 bei einem Unfall ums Leben kam. Ein Motorradfahrer fuhr sie auf dem Nachhauseweg von der Arbeit an, als sie über die Straße ging. Er war nicht einmal schuld, es war einfach Pech, weil die Bremsen versagt hatten. Er war nicht einmal zu schnell gefahren. Die Baptistenkirche gab meiner Mama ein Gnadenbegräbnis. Dieselbe Kirche, die Barmherzigen Baptisten, schickten mich in das Waisenhaus der Kinder Jesu in Des Moines. Das Haus wird von allen möglichen Kirchen gemeinsam unterhalten. Dort lernte ich lesen und schreiben...

Er hielt inne. Seine Hand tat ihm vom vielen Schreiben weh, aber das war nicht der Grund. Er fühlte sich anbehaglich, heiß und unwohl, weil er das alles wieder aufleben lassen mußte. Er ging zu den Zellen und sah hinein. Childress und Warner schliefen. Vince Hogan stand am Gitter, rauchte eine Zigarette und sah zu der leeren Zelle hinüber, in der Ray Booth heute nacht gesessen hätte, wäre er nicht so schnell verschwunden. Hogan sah aus, als ob er geweint hätte, und das brachte Nick wieder zu dem kleinen stummen Bündel Mensch namens Nick Andres zurück.

Er hatte als Kind im Kino ein Wort gelernt. Dieses Wort hiess INCOMMUNICADO, und es hatte für Nick immer einen phantastischen, Lovecraftschen Beigeschmack gehabt, ein beängstigendes Wort, das im Gehirn dröhnte und hallte, ein Wort, das alle Nuancen der Angst umschrieb, die nur außerhalb der gesunden Welt, in der menschlichen Seele, leben. Er war sein ganzes Leben lang INCOMMUNICADO gewesen.

Er setzte sich und las die letzte Zeile, die er geschrieben hatte. Dort lernte ich lesen und schreiben. Aber so einfach war es nicht gewesen. Er lebte in einer schweigenden Welt. Schreiben war ein Kode. Sprechen war Lippenbewegung, Auf und Ab von Zähnen, ein Tanz der Zunge. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, Lippen zu lesen und mit krakeligen, mühsamen Buchstaben seinen Namen zu schreiben. Das ist dein Name, hatte sie gesagt. Das bist du, Nicky.Aber sie hatte es natürlich stumm gesagt, bedeutungslos. Der wesentliche Zusammenhang war ihm klargeworden, als sie auf das Papier tippte, dann auf seine Brust. Das Schlimmste an der Taubstummheit war nicht, daß man in einer Stummfilmwelt lebte; das Schlimmste war, daß man die Namen der Dinge nicht kannte. Das Konzept von Namen hatte er erst mit vier Jahren allmählich verstanden. Erst mit sechs hatte er gewußt, daß man die großen grünen Dinger Bäumenannte. Er hatte es wissen wollen, aber niemand hatte daran gedacht, es ihm zu sagen, und er konnte nicht fragen: Er war INCOMMUNICADO.

Als sie starb, hatte er sich fast völlig in sich selbst zurückgezogen. Das Waisenhaus war ein Ort brüllender Stille, wo magere Jungs mit grausamen Gesichtern sich über sein Schweigen lustig machten; zwei Jungen liefen etwa auf ihn zu, der eine hatte die Hände vor dem Mund, der andere auf den Ohren. Wenn kein Personal in der Nähe war, schlugen sie ihn. Warum? Ohne Grund. Abgesehen yon dem, daß es in der riesigen anonymen Klasse der Opfer eine Unterklasse gab: die Opfer der Opfer.

Er wollte nicht mehr kommunizieren, und als das geschah, begann der Denkprozeß selbst einzurosten und auseinanderzufallen. Er fing an, ziellos von Ort zu Ort zu gehen und die namenlosen Dinge zu betrachten, von denen die Welt voll war. Er beobachtete Kinder auf dem Spielplatz und sah, wie sie die Lippen bewegten, die Zähne wie weiße Zugbrücken hoben und senkten und die Zungen im rituellen Balztanz der Sprache hüpfen ließen. Manchmal betrachtete er eine einzige Wolke eine ganze Stunde lang.

Dann war Rudy gekommen. Ein großer Mann mit Narben im Gesicht und einer Glatze. Er war eins fünfundneunzig groß, aber für den winzigen Nick Andros hätten es auch drei Meter sein können. Sie trafen sich zum ersten Mal im Keller, wo ein Tisch, sechs oder sieben Stühle und ein Fernsehgerät standen, das nur funktionierte, wenn es Lust hatte. Rudy kauerte sich nieder und brachte die Augen ungefähr auf eine Höhe mit denen von Nick. Dann nahm er die riesigen, narbigen Hände und hielt sie sich vor Mund und Ohren.

Ich bin taubstumm.

Nick wandte das Gesicht mürrisch ab. Wen interessiert das?

Rudy schlug ihn.

Nick fiel zu Boden. Er machte den Mund auf, und stumme Tränen liefen ihm aus den Augen. Er wollte nicht hier bei diesem narbigen Troll sein, diesem kahlen Schreckgespenst. Der Mann war nicht taubstumm, es war nur ein grausamer Scherz.