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Er schwieg einen Augenblick, und sie konnte andere Stimmen in anderen Zimmern hören. Sie hatten eigene Probleme, vermutete sie. Junge, die Welt ist ein Drama rund um die Uhr. Wir lieben unser Leben, und daher halten wir nach dem Licht Ausschau, das uns leitet, so wie wir nach dem Morgen suchen.

»Ich habe echte Zweifel, was das Baby betrifft«, sagte er schließlich. Das bezweifelte wiederum sie, aber wahrscheinlich war es das einzige, was er ihr sagen konnte, das wirklich weh tat. Und es tat weh.

»Jess...«

»Wohin gehst du?« fragte er brüsk. »Du kannst nicht den ganzen Sommer über im Harborside bleiben. Wenn du eine Bleibe brauchst, kann ich mich in Portland umsehen.«

»Ich habe eine Bleibe.«

»Wo? Oder geht mich das nichts an?«

»Das geht dich nichts an«, sagte sie und biß sich auf die Zunge, weil sie keine diplomatischere Möglichkeit gefunden hatte, es ihm zu sagen.

» Oh«, sagte er. Seine Stimme klang seltsam tonlos. Schließlich sagte er vorsichtig: »Kann ich dich etwas fragen, ohne daß du gleich sauer wirst, Frannie? Ich will es nämlich wirklich wissen. Es ist keine rhetorische Frage, oder so.«

»Frag ruhig«, sagte sie argwöhnisch. Sie wappnete sich geistig schon dagegen, sauer zu werden, denn wenn Jess mit so einer Eröffnung kam, dann folgte meistens eine scheußliche und vollkommen unerwartete Lektion Chauvinismus.

»Habe ich in dieser ganzen Sache überhaupt keine Rechte?« fragte Jess. »Kann ich nicht auch Mitverantwortung übernehmen und mit entscheiden?«

Einen Moment war sie sauer, aber dann flaute das Gefühl ab. Jess war eben nur Jess, er versuchte, das Bild zu beschützen, das er von sich selbst hatte, wie es alle denkenden Menschen machen, damit sie nachts schlafen können. Sie hatte ihn immer auch wegen seiner Intelligenz gemocht, aber in so einer Situation konnte Intelligenz langweilig sein. Menschen wie Jess - und auch sie selbst - hatten ihr Leben lang eingebleut bekommen, daß es gut und richtig war, sich Aufgaben zu setzen und aktiv zu sein. Manchmal mußte man sich verletzen - und zwar schlimm -, damit man einsah, es war besser, sich ins hohe Gras zu legen und zu zögern. Seine Fangnetze waren schön geknüpft, aber es waren und blieben trotzdem Fangnetze. Er wollte sie nicht davon lassen.

»Jess«, sagte sie, »wir wollten dieses Baby beide nicht. Wir haben uns geeinigt, daß ich die Pille nehme, damit es nicht dazu kommt. Du hast keine Verantwortung ...«

»Aber...«

»Nein, Jess«, sagte sie mit Nachdruck.

Er seufzte.

»Meldest du dich, wenn du umgezogen bist?«

»Ich denke schon.«

»Hast du immer noch vor, wieder zur Uni zu gehen?«

»Später. Ich lasse das Herbstsemester ausfallen. Vielleicht aufgrund der Krankheitsregelung oder so.«

»Wenn du mich brauchst, Frannie, du weißt, wo ich bin. Ich laufe nicht weg.«

»Das weiß ich, Jess.«

»Wenn du Geld brauchst...«

»Ja.«

»Melde dich. Ich will dich nicht drängen, aber... ich möchte dich gerne wiedersehen.«

»Gut, Jess.«

»Lebwohl, Fran.«

»Lebwohl.«

Als sie aufgelegt hatte, kam ihr das Lebewohl zu endgültig vor, die Unterhaltung nicht beendet. Dann fiel ihr der Grund ein. Sie hatten kein »Ich liebe dich« hinzugefügt, und das war das erste Mal. Es machte sie traurig, und sie befahl sich, es seinzulassen, aber das half nichts.

Der letzte Anruf kam gegen Mittag, von ihrem Vater. Vorgestern hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, und er hatte ihr gesagt, daß es ihn bekümmerte, welche Auswirkungen die ganze Sache auf Carla hatte. Sie war gestern nacht nicht ins Bett gekommen, sondern war im Salon geblieben und hatte die alten Stammbäume durchgesehen. Gegen halb zwölf war er nach unten gegangen und hatte sie gefragt, wann sie ins Bett kommen wollte. Sie hatte das Haar offen getragen; es fiel über die Schultern und das Leibchen des Nachthemds, und Peter hatte gesagt, sie sah aus, als wäre sie nicht völlig in Kontakt mit der Wirklichkeit. Das schwere Buch lag auf ihrem Schoß, und sie hatte ihn nicht einmal angesehen, sondern einfach weiter umgeblättert. Sie hatte gesagt, daß sie nicht müde war. Sie wollte noch eine Weile aufbleiben. Sie habe eine Erkältung, sagte Peter zu Frannie, während sie in der Nische im Corner Lunch saßen. Schnupfen. Als Peter sie gefragt habe, ob sie ein Glas warme Milch wolle, habe sie überhaupt nicht geantwortet.

Gestern morgen hatte er sie dann schlafend im Sessel gefunden, das Buch auf dem Schoß. Als sie schließlich aufgewacht war, schien es ihr besser zu gehen und sie wieder ganz die Alte zu sein, aber die Erkältung war schlimmer geworden. Sie wollte aber nicht, daß Dr. Edmonton sich herbemühte. Sie hatte sich mit Wick Vaporup eingerieben und sich ein warmes Mulltuch auf die Brust gelegt, und sie dachte, daß die Stirnhöhlen schon wieder frei wurden. Aber Peter sagte Frannie, daß ihm Carlas Aussehen überhaupt nicht gefiel. Sie ließ ihn zwar nicht Fieber messen, aber er glaubte, daß sie hohes Fieber hatte.

Heute hatte er sie angerufen, kurz nachdem das erste Gewitter angefangen hatte. Die purpurnen und schwarzen Wolken türmten sich stumm über dem Hafen, und dann fing es an zu regnen, anfangs sacht, aber dann wie aus Kübeln geschüttet. Während sie sich unterhielten, sah sie zum Fenster hinaus und konnte Blitze sehen, die jenseits des Wellenbrechers ins Meer einschlugen, und jedesmal, wenn das passierte, hörte sie ein leises Kratzen in der Leitung, wie von einer Plattenspielernadel, die über die Platte gleitet.

»Heute ist sie im Bett«, sagte Peter. »Sie war endlich einverstanden, daß Tom Edmonton einmal nach ihr sieht.«

»War er schon da?«

»Er ist grade gegangen. Er glaubt, sie hat die Grippe.«

»O Gott«, sagte Frannie und machte die Augen zu. »Bei einer Frau in ihrem Alter ist damit nicht zu spaßen.«

»Nein, wirklich nicht.« Er machte eine Pause. »Ich habe ihm alles erzählt, Frannie. Über das Baby, über deinen Streit mit Carla. Tom ist dein Arzt, seit du selbst noch ein Baby warst, der kann den Mund halten. Ich wollte wissen, ob euer Streit der Auslöser dafür gewesen sein könnte. Er sagte nein. Grippe ist Grippe.«

»Flu made who?« sagte Frannie tonlos.

»Bitte?«

»Vergiß es«, sagte Fran. Ihr Vater war erstaunlich vielseitig gebildet, aber ein Fan von AC/DC war er eindeutig nicht. »Nur weiter.«

»Nun, viel gibt es nicht mehr zu erzählen, Liebes. Tom sagte, im Moment grassiert eine Grippewelle. Eine besonders tückische Art. Sie scheint aus dem Süden zu kommen, und ganz New York leidet darunter.«

»Aber die ganze Nacht im Salon zu schlafen...«, begann sie zweifelnd.

»Er sagte, im Sitzen zu schlafen sei vermutlich besser für Lungen und Bronchien. Sonst hat er nichts gesagt, aber Alberta Edmonton ist Mitglied in allen Clubs, in denen Carla auch ist, daher mußte er wohl nicht mehr sagen. Wir wissen beide, daß sie es förmlich herausgefordert hat, Fran. Sie ist Vorsitzende des Historischen Komitees der Stadt, sie arbeitet zwanzig Stunden die Woche in der Bibliothek, sie ist Sekretärin des Frauenclubs und des Literarischen Frauenkreises, sie organisiert den hiesigen Basar, und das schon vor Freds Tod, und vergangenen Winter hat sie sich zu guter Letzt noch dem Heart Fund angeschlossen. Obendrein versucht sie, Interessenten für eine genealogische Gesellschaft in Südmaine zu finden. Sie ist ausgelaugt, überarbeitet. Darum ist sie auch so wütend auf dich gewesen. Edmonton hat nur gesagt, sie war ein willkommenes Ziel für den erstbesten bösen Erreger, der des Wegs kommt. Und mehr mußte er nicht sagen. Frannie, sie wird alt und will es nicht wahrhaben. Sie hat schwerer gearbeitet als ich.«

»Ist sie sehr krank, Daddy?«

»Sie liegt im Bett, trinkt Saft und nimmt die Tabletten, die Tom verschrieben hat. Ich habe einen Tag freigenommen, und morgen kommt Mrs. Halliday und bleibt bei ihr. Carla bestancKauf Mrs. Halliday, damit sie die Tagesordnung für die Versammlung der Historischen Gesellschaft im Juli ausarbeiten können.« Er seufzte tief, und wieder kratzte ein Blitz in der Leitung. »Manchmal glaube ich, sie will in voller Rüstung sterben.«

Fran sagte schüchtern: »Glaubst du, es würde sie stören, wenn ich...«

»Momentan schon. Aber laß ihr Zeit, Fran. Sie kommt wieder zur Besinnung.«