Jetzt, vier Stunden später, als sie den Regenschal übers Haar zog, fragte sie sich, ob ihre Mutter tatsächlich wieder zur Besinnung kommen würde.
Wenn sie das Baby weggab, bekam vielleicht niemand in der Stadt Wind davon. Aber das war unwahrscheinlich. In kleinen Orten riechen die Leute den Wind mit außergewöhnlich feinen Nasen. Und wenn sie das Baby behielt... aber daran dachte sie ja nicht im Ernst, oder? Oder?
Sie spürte Schuldgefühle in sich, als sie den leichten Übermantel anzog. Ihre Mutter war ausgelaugt, selbstverständlich. Das hatte Fran gesehen, als sie vom College nach Hause gekommen war und sie beide sich auf die Wangen geküßt hatten. Carla hatte Tränensäcke unter den Augen, ihre Haut sah . zu gelb aus, und das Grau im Haar, das immer schön frisiert war, hatte sich trotz Tönungen für dreißig Dollar weiter ausgebreitet. Trotzdem... Sie war hysterisch gewesen, absolut hysterisch. Und Fran stand plötzlich mit der Frage da, in welchem Maße sie selbst Verantwortung übernehmen wollte, falls die Grippe ihrer Mutter sich zu einer Lungenentzündung entwickelte oder sie einen Zusammenbruch erlitt. Oder sogar starb. Herrgott, was für ein schrecklicher Gedanke. Das durfte nicht geschehen, bitte, lieber Gott, nein, natürlich nicht. Die Tabletten, die sie nahm, würden die Grippe besiegen, und wenn Frannie ihr aus den Augen war und den kleinen Ankömmling still und heimlich in Somersworth zur Welt brachte, würde ihre Mutter sich von dem Schlag erholen, den sie hatte einstecken müssen. Sie würde...
Das Telefon läutete.
Sie sah es einen Moment mit leerem Blick an, draußen flackerten weitere Blitze, gefolgt von Donner, so nahe und heftig, daß sie zusammenzuckte und aufsprang.
Ring, ring, ring.
Aber sie hatte ihre drei Anrufe gehabt, wer könnte es sein? Debbie mußte sie nicht zurückrufen, und sie bezweifelte, daß Jess es tun würde. Vielleicht war es die Organisation Dialing for Dollars. Oder ein Saladmaster-Vertreter. Vielleicht war es doch Jess, der die alte College-Masche versuchen wollte.
Kurz bevor sie abnahm, war sie sicher, daß es ihr Vater war, der schlechte Neuigkeiten brachte. Es ist wie Kuchen, dachte sie. Verantwortung ist ein Kuchen. Alles Gute, das man tut, alle Pflichten, die man erfüllt, werden in den Teig eingerührt, aber man macht sich etwas vor, wenn man glaubt, daß man sich nicht eines Tages selbst ein möglichst großes, saftiges Stück von diesem Kuchen für sich abschnitt. Und es bis zum letzten Krümel aß.
»Hallo?«
Einen Moment lang herrschte nur Schweigen - sie runzelte verwirrt die Stirn, sagte noch einmaclass="underline" »Hallo?«
Dann sagte ihr Vater: »Fran?« und gab einen seltsam erstickten Laut von sich. »Frannie?« Wieder der erstickte Laut, und Fran wurde mit aufkeimendem Entsetzen klar, daß ihr Vater Tränen unterdrückte. Sie griff mit einer Hand zum Hals und berührte den Knoten, wo sie den Regenschal gebunden hatte.
»Daddy? Was ist? Etwas mit Mom?«
»Frannie, ich muß dich abholen. Ich... komme einfach vorbei und hol' dich ab, ja?«
»Ist mit Mom alles in Ordnung?« schrie sie ins Telefon. Über dem Harborside rollte erneut Donner und machte ihr angst, sie weinte.
»Sag es mir, Daddy!«
»Es geht ihr schlechter, mehr weiß ich nicht«, sagte Peter. »Etwa eine Stunde, nachdem ich mit dir gesprochen habe, hat sich ihr Zustand verschlimmert. Das Fieber ist gestiegen. Sie war im Delirium. Ich habe versucht, Tom anzurufen... Kachel sagte, er wäre unterwegs, viele Leute wären sehr krank... darum habe ich das Sanford Hospital angerufen, und sie haben gesagt, beide Krankenwagen wären im Einsatz, aber sie würden Carla auf die Liste setzen. Die Liste, Frannie, zum Teufel, was ist das plötzlich für eine Liste? Ich kenne Jim Warrington. Er fährt einen Krankenwagen des Sanford, und wenn nicht gerade auf der 95 ein Unfall ist, sitzt er den ganzen Tag herum und spielt Romme. Was ist das für eine Liste?«
Er schrie beinahe.
»Beruhige dich, Daddy. Beruhige dich. Beruhige dich.« Sie brach wieder in Tränen aus, und die Hand wanderte vom Knoten des Schals zu den Augen. »Wenn sie noch daheim ist, solltest du sie selbst hinbringen.«
»Nein... nein, der Wagen ist vor etwa einer Viertelstunde gekommen. Herrgott, Frannie, es waren sechs Leutein dem Krankenwagen. Darunter auch Will Ronson, der Mann, dem der Drugstore gehört. Und Carla... deine Mutter... ist ein wenig zu sich gekommen, als man sie in den Wagen geladen hat, und sie hat immer nur gesagt: >Ich kann nicht atmen, Peter, ich kann nicht atmen, warum bekomme ich keine Luft?< Mein Gott«, seufzte er mit schluchzender, kindlicher Stimme, die ihr Angst machte.
»Kannst du fahren, Daddy? Kannst du bis hierher fahren?«
»Ja«, sagte er. »Ja, sicher.« Er schien sich zusammenzunehmen.
»Ich warte auf der Veranda.«
Sie legte auf und ging rasch mit zitternden Knien nach unten. Auf der Veranda sah sie, daß es zwar noch regnete, die Wolken des letzten Gewitters aber bereits aufbrachen und die Spätnachmittagssonne durchschien. Sie suchte automatisch nach einem Regenbogen und sah ihn weit draußen über dem Wasser, eine dunstige, mystische Sichel. Schuldgefühle nagten wie pelzige Leiber in ihrem Bauch, da drinnen, wo dieses andere Ding war, und sie fing wieder an zu weinen.
Iß deinen Kuchen, sagte sie sich, während sie auf ihren Vater wartete. Er schmeckt gräßlich, aber iß den Kuchen. Du kannst ein zweites Stück haben, sogar ein drittes. Iß deinen Kuchen, Frannie, jeden Bissen.
21
Stu Redman hatte Angst.
Er blickte durch das vergitterte Fenster seines neuen Zimmers in Stovington, Vermont, und sah tief unten eine kleine Stadt, Tankstellenschilder im Miniaturmaßstab, eine Art Fabrikgebäude, einen Schlagbaum und hinter dem Schlagbaum die Granitwirbelsäule des westlichen Neu England - die Green Mountains.
Er hatte Angst, weil dieses Zimmer nicht wie ein Krankenzimmer, sondern wie eine Gefängniszelle aussah. Er hatte Angst, weil Denninger weg war. Er hatte Denninger nicht mehr gesehen, seit dieser ganze verrückte Drei-Manegen-Zirkus von Atlanta nach hier verlegt worden war. Auch Deitz war nicht mehr da. Stu dachte, dass Denninger und Deitz vielleicht krank waren, möglicherweise schon tot.
Jemand hatte Scheiße gebaut. Entweder das, oder die Krankheit, die Charles D. Campion nach Arnette gebracht hatte, war viel leichter übertragbar, als alle vermutet hatten. Auf jeden Fall war das Seuchenzentrum in Atlanta verseucht worden, und Stu vermutete, daß alle, die dort gewesen waren, jetzt die Möglichkeit hatten, am eigenen Leibe Erkenntnisse über den Virus zu sammeln, den sie Eins-A oder Supergrippe nannten.
Sie führten immer noch Tests mit ihm durch, aber diese wirkten ziellos. Der Zeitplan war völlig willkürlich. Sie schrieben die Befunde auf, aber er hatte den Verdacht, daß irgend jemand die Unterlagen nur überflog, den Kopf schüttelte und sie in den nächsten Reißwolf warf.
Das war noch nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Waffen. Die Schwestern, die hereinkamen, um ihm Blut oder Speichel oder Urin abzunehmen, wurden jetzt immer von einem Soldaten in weißem Anzug begleitet, und der Soldat trug einen Revolver in einem Plastikbeutel. Dieser Plastikbeutel war über dem Handschuh am rechten Handgelenk befestigt. Der Revolver war ein Fünfundvierziger in Armeeausführung, und Stu zweifelte nicht daran, daß der Fünfundvierziger das Ende des Plastikbeutels in rauchende, brennende Fetzen verwandeln und Stu Redman zu einem Golden Oldie machen würde, wenn er ein Spielchen versuchen sollte wie bei Deitz.
Wenn dies nur noch Routine war, dann war er entbehrlich geworden. Unter Arrest zu stehen war schlimm. Unter Arrest zu stehen und entbehrlich zu sein... das war ganz schlimm.
Er verfolgte die Sechs-Uhr-Nachrichten jetzt jeden Abend. Die Männer, die in Indien einen Staatsstreich versucht hatten, waren als ausländische Agitatoren bezeichnet und erschossen worden. Die Polizei suchte immer noch die Person oder Personen, die in Laramie, Wyoming, gestern ein Kraftwerk in die Luft gesprengt hatten. Das Oberste Bundesgericht hatte mit sechs zu drei Stimmen beschlossen, daß Homosexuelle nicht aus dem Staatsdienst entlassen werden durften. Und zum ersten Mal wurden auch andere Dinge angedeutet.