Irgendwann - er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war - konnte er aufblicken. Mathers sah ihn immer noch an, und sein Kahlkopf glänzte immer noch. Die Wärter sahen betont anderswohin. Lloyd stöhnte und wand sich, Tränen quollen ihm aus den Augen, er hatte eine rotglühende Kugel im Unterleib.
»Das war nicht persönlich gemeint«, sagte Mathers aufrichtig. »Rein geschäftlich, klar? Ehrlich, ich hoffe, daß du einigermaßen glimpflich davonkommst. Das Markham-Gesetz ist Scheiße.«
Dann schlenderte er davon, und Lloyd sah den Türwärter am anderen Ende des Hofs auf einer Rampe in der Ladezone stehen. Er hatte die Daumen in den Sam-Browne-Gürtel gehakt und grinste Lloyd an. Als er merkte, daß er Lloyds ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, zeigte er ihm mit den Mittelfingern beider Hände den Vogel. Mathers spazierte zu ihm hinüber, und der Türwärter warf ihm eine Packung Tareytons zu. Mathers steckte sie in die Brusttasche, salutierte lässig und verschwand. Lloyd lag mit an die Brust gezogenen Knien da und hielt sich den schmerzenden Leib. Devins Worte gingen ihm durch den Kopf: Das Leben ist hart, Lloyd.
Wie wahr.
25
Nick Andros schob einen der Vorhänge zur Seite und blickte hinaus auf die Straße. Von hier, aus dem ersten Stock im Haus des verstorbenen John Baker, sah man links die ganze Innenstadt von Shoyo, und rechts die Route 63, die aus der Stadt hinausführte. Die Main Street war völlig verlassen. Ein elend aussehender Hund sass mitten auf der Straße, ließ den Kopf hängen; seine Flanken blähten sich, weißer Schaum tropfte ihm aus dem Maul auf das in der Hitze flimmernde Pflaster. Einen halben Block weiter lag ein anderer Hund in der Gosse - tot.
Die Frau hinter ihm stöhnte laut und kehlig, aber Nick hörte sie nicht. Er zog den Vorhang wieder zu, rieb sich einen Moment die Augen und ging dann zu der Frau, die aufgewacht war. Jane Baker war in mehrere Decken eingemummt, denn vor ein paar Stunden hatte sie plötzlich angefangen zu frieren. Jetzt lief ihr Schweiß in Strömen übers Gesicht, und sie hatte die Decken weggestrampelt - Nick stellte verlegen fest, daß sie das dünne Nachthemd stellenweise so durchgeschwitzt hatte, daß es durchsichtig war. Aber sie sah ihn nicht, und er bezweifelte, ob die Tatsache, daß sie halbnackt war, in diesem Stadium überhaupt noch eine Rolle spielte. Sie lag im Sterben.
»Johnny, bring die Schüssel, ich glaube, ich muß mich übergeben!« rief sie.
Er holte die Schüssel unter dem Bett hervor und stellte sie ihr hin, aber die Frau strampelte und stieß sie mit einem hohlen Poltern, das er auch nicht hören konnte, auf den Fußboden. Er hob sie auf, hielt sie fest und sah die Frau an.
»Johnny!« kreischte sie. »Ich kann mein Nähkästchen nicht finden!
Es steht nicht im Schrank!«
Er schenkte ihr aus dem Krug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein und hielt es ihr an die Lippen, aber sie schlug wieder um sich und hätte es ihm fast aus der Hand geschlagen. Er stellte es in ihre Reichweite, bis sie sich beruhigt hatte.
Seine Stummheit war ihm noch nie so bitter bewußt gewesen wie in den letzten zwei Tagen. Am Dreiundzwanzigsten, als Nick hier ins Haus gekommen war, war der Methodistenpfarrer Braceman bei ihr gewesen. Er las ihr im Wohnzimmer aus der Bibel vor, aber er wirkte nervös und schien nicht schnell genug wieder gehen zu können. Nick konnte sich denken, warum. Das Fieber gab ihr ein rosiges, mädchenhaftes Aussehen, das nicht zu ihrem schmerzlichen Verlust paßte. Vielleicht hatte der Pfarrer geglaubt, sie wolle ihn anmachen, aber wahrscheinlicher war, daß er seine Familie zusammenrufen und möglichst schnell über Land verschwinden wollte. In einer kleinen Stadt verbreiten sich Neuigkeiten rasch, und auch andere hatten schon beschlossen, Shoyo zu verlassen.
Seit Braceman vor etwa achtundvierzig Stunden das Wohnzimmer der Bakers verlassen hatte, war alles zu einem Alptraum geworden. Mrs. Baker ging es schlechter, so viel schlechter, daß Nick befürchtet hatte, sie würde vor Sonnenuntergang sterben.
Um so schlimmer, daß er nicht bei ihr bleiben konnte. Er mußte ja immer wieder zum Truck Stop hinunter, um seinen drei Gefangenen etwas zu essen zu besorgen, aber Vince Hogan hatte nicht essen können. Er lag im Delirium. Mike Childress und Billy Warner wollten raus, aber Nick brachte es nicht über sich, sie freizulassen. Nicht aus Angst; er glaubte nicht, daß sie Zeit damit vergeuden würden, ihn zusammenzuschlagen, um sich zu rächen; sie würden, wie die anderen, so schnell wie möglich aus Shoyo verschwinden wollen. Aber er hatte die Verantwortung. Er hatte einem Mann sein Wort gegeben, der jetzt tot war. Und früher oder später würde die State Patrol die Dinge in die Hand nehmen und die Gefangenen abholen.
In der untersten Schublade von Bakers Schreibtisch fand er den ins Halfter gerollten Fünfundvierziger. Nach einem Augenblick des Nachdenkens schnallte er sich die Waffe um. Als er nach unten schaute und den Holzgriff des schweren Colts an seiner mageren Hüfte sah, kam er sich lächerlich vor - aber das Gewicht war beruhigend.
Am Nachmittag des Dreiundzwanzigsten hatte er Vinces Zellentür aufgeschlossen und ihm provisorische Eispackungen auf Brust, Stirn und Hals gelegt. Vince hatte die Augen aufgeschlagen und Nick so elend und flehentlich angesehen, daß Nick gewünscht hatte, er könnte etwas sagen - wie er es zwei Tage später bei Mrs. Baker wünschte -, irgend etwas, um den Mann mit ein paar Worten zu trösten. Es wird schon wieder gut oder ich glaube, das Fieber läßt bald nachhätte schon gereicht.
Die ganze Zeit, während er sich um Vince kümmerte, schrien Billy und Mike ihn an. Solange er sich über den kranken Mann beugte, war das egal, aber jedesmal wenn er hochsah, blickte er in ihre ängstlichen Gesichter, und ihre Lippen formten Worte, die stets auf dasselbe hinausliefen: Bitte, laß uns raus. Nick hielt sich wachsam von ihnen fern. Er war noch nicht erwachsen, aber alt genug zu wissen, daß Panik Männer gefährlich machte.
Am Nachmittag war er auf fast leeren Straßen hin- und hergewandert und hatte immer damit gerechnet, Vince Hogan an einem oder Mrs. Baker am anderen Ende tot vorzufinden. Er hielt nach Dr. Soames'
Auto Ausschau, sah es aber nicht. An diesem Nachmittag hatten einige Geschäfte noch geöffnet gehabt, auch die Texaco-Tankstelle, aber er war mehr und mehr davon überzeugt, daß die Stadt sich zusehends entvölkerte. Die Leute schlichen auf Holzfällerpfaden durch die Wälder oder wateten vielleicht sogar den Shoyo Stream hinauf, der durch Smackover floß und schließlich in der Stadt Mount Holly herauskam. Nach Einbruch der Dunkelheit würden noch mehr Leute die Stadt verlassen, dachte Nick.
Die Sonne war gerade untergegangen, als er das Haus der Bakers erreichte, wo Jane zitternd im Bademantel in der Küche umherschlurfte und Tee aufbrühte. Sie schaute Nick dankbar an, als er hereinkam, und er sah, daß sie kein Fieber mehr hatte.
»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie auf mich aufgepaßt haben«, sagte sie ruhig. »Es geht mir schon viel besser. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Und dann brach sie in Tränen aus.
Er ging zu ihr, denn er hatte Angst, sie könnte das Bewußtsein verlieren.
Sie hielt sich an seinen Armen fest und legte den Kopf an seine Schulter, ihr dunkles Haar fiel über den hellblauen Morgenmantel.
»Johnny«, sagte sie in der dunklen Küche. »Oh, mein armer Johnny.«
Wenn ich nur sprechen könnte, dachte Nick unglücklich. Aber er konnte sie nur festhalten und durch die Küche zu einem Stuhl am Tisch führen.
»Der Tee...«
Nick deutete auf sich und half ihr, sich zu setzen.
»Ja, gut«, sagte sie. »Es geht mir wirklich besser. Viel besser. Es ist nur, daß... daß...« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nick machte ihnen heißen Tee und brachte ihn an den Tisch. Eine Weile tranken sie schweigend. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen, wie ein Kind. Schließlich stellte sie sie ab und sagte: »Wie viele in der Stadt haben es, Nick?«
»Das weiß ich nicht mehr«, schrieb Nick. »Es ist ziemlich schlimm.«
»Hast du den Doktor gesehen?«
»Seit heute morgen nicht mehr.«
»Am wird sich völlig verausgaben, wenn er nicht aufpaßt«, sagte sie.