Kirygosa konnte die Augen nicht losreißen. „Also dieses... Ding... war der Grund für alles, was du getan hast?“ Ihre Stimme brach. „Ein Monster ins Leben zu bringen, das noch nie ein Recht auf Leben hatte?“
„Komm schon, Kirygosa!“, schalt sie der Vater des Zwielichts spöttisch. „Du solltest mehr Respekt zeigen. Du könntest für diese Aufgabe sehr wichtig sein.“
Ihre Augen weiteten sich. „Nein... keine Experimente mehr.“
Er beugte sich zu ihr, übergab dem Troll-Akolythen die Kette, der aufsprang. „Du siehst, meine Teure“, sagte er freundlich, „Die Einzige, der die Zeit davonläuft, bist du.“
5
Es war eine lange, beschwerliche Reise vom Mahlstrom nach Feralas. Thrall war am Treffpunkt erschienen, wie er es versprochen hatte, um Ysera seine Antwort zu überbringen, nur um festzustellen, dass nichts von dem grünen Drachenaspekt zu sehen war. Er war zunächst irritiert, dann beschämt von seiner Reaktion. Ysera hatte zweifellos viel wichtigere Aufgaben zu lösen, als auf die Antwort eines einfachen Schamanen zu warten. Er war mit seiner Aufgabe betraut, hatte sie angenommen und würde sie erledigen. Obwohl er wünschte, Ysera hätte einen der großen grünen Drachen dagelassen, um die Reise zu beschleunigen. Das hatte sie nicht, deshalb gab er sein Bestes per Wyvern, Schiff und Wolf.
Ysera hatte ihm gesagt, dass Träumersruh sich an einen der beiden Zwillingskolosse schmiege. Er ritt die überwucherte Straße auf seiner getreuen Frostwölfin Schneesturm entlang. Er spürte die feuchte Hitze, die so anders war als die Temperaturen von Lordaeron, wo er aufgewachsen war, und die trockene Wärme von Orgrimmar. Dabei merkte er, wie sie ihm die Energie entzog.
Thrall schnupperte und sah den Rauch schon aus einiger Entfernung. Er drängte seine Wölfin zu größerem Tempo. Der beißende Qualm war scharf und mit dem schweren blättrigen Geruch von Feralas erfüllt.
Als er näher kam, spürte Thrall die Abneigung und Verunsicherung schwinden, die Ysera ihm vermittelt hatte. Diese Leute, diese Druiden waren in Schwierigkeiten. Sie brauchten Hilfe.
Und welche Gründe der grüne Drachenaspekt auch haben mochte, sie wollte, dass er ihnen half. Und das würde er auch tun.
Er umrundete eine Ecke und plötzlich lag das Lager vor ihm. Thrall blieb angesichts des Anblicks abrupt stehen.
Schnitzereien von Eulen... alte Ruinen... ein Mondbrunnen...
„Nachtelfen“, murmelte er laut. Ysera hatte nur „Druiden“ erwähnt. Sie hatte offensichtlich das kleine Detail vergessen, dass Träumersruh keine Tauren-Druiden beherbergte, sondern möglicherweise – höchstwahrscheinlich – feindliche Nachtelfen. War das eine Falle? Er war schon einmal so von der Allianz gefangen genommen worden, als „Paket“, und gerettet von den unwahrscheinlichsten Rettern, die man sich vorstellen konnte. Er würde nicht zulassen, dass er noch einmal derart benutzt wurde.
Thrall stieg ab und wies Schneesturm mit der Hand an, zu warten. Langsam und vorsichtig trat er vor, um besser sehen zu können. Wie Ysera ihm gesagt hatte, war Träumersruh tatsächlich klein. Es schien verlassen zu sein. Vielleicht waren alle Bewohner fort, um das Feuer zu löschen.
Die Urtume wussten, dass es eng wurde.
Er konnte mehrere Bäume am entfernten Ende des Lagers erkennen, hinter ein paar lilafarbenen Reisepavillons, die dort aufgestellt worden waren. Und wieder, wie die Erwachte ihm versichert hatte, war es nur der Rand dessen, was für Thrall wie ein sehr alter Forst aussah.
Er konnte hier eindeutig die Wut und die Angst der Elemente spüren. Es war fast ansteckend und seine Augen füllten sich mit Tränen. Wenn nicht bald etwas getan würde...
Er spürte etwas Scharfes und Hartes auf seinem Nacken landen und blieb stehen.
„Redet langsam, Orc, und sagt uns, warum Ihr gekommen seid. Wollt Ihr den Druiden der Kralle Ärger bereiten?“ Die Stimme war weiblich, hart und duldete keinen Widerspruch.
Thrall verfluchte sich. Er hatte sich vom Schmerz der Elemente zu sehr ablenken lassen und war unvorsichtig gewesen. Zumindest ließ ihn die Elfe sprechen.
„Ich wurde hergeschickt, um zu helfen“, sagte er. „Ich bin Schamane. Durchsucht meine Taschen, wenn Ihr mögt, Ihr werdet meine Totems finden.“
Ein Schnauben erklang. „Ein Orc kommt her, um Nachtelfen zu helfen?“
„Ein Schamane kommt, um zu heilen und das wütende Land zu besänftigen“, sagte er. „Ich arbeite mit dem Irdenen Ring zusammen. Sowohl Horde wie auch Allianz versuchen einen Weg zu finden, die Welt zu retten. Die Druiden haben eine ähnliche Organisation namens Zirkel des Cenarius. In meinen Sachen habe ich einen Beutel, in dem sich die Totems befinden. Durchsucht ihn, wenn Ihr wollt. Ich will nur, dass Ihr mich helfen lasst.“
Das spitze Objekt wurde von seinem Nacken genommen. Doch Thrall war nicht so dumm, anzugreifen. Die Elfe war sicher nicht allein. Er spannte sich, als der Schicksalshammer, den er auf dem Rücken trug, entfernt wurde, doch er behielt die Kontrolle über sich. Hände durchwühlten seine Sachen und holten den Beutel heraus.
„Das sind tatsächlich Totems“, sagte eine männliche Stimme. „Und er hat Gebetsperlen dabei. Dreht Euch um, Orc.“
Thrall gehorchte langsam. Zwei Nachtelfen musterten ihn. Eine war eine Wächterin mit grünem Haar und violetter Haut. Die andere war männlich, glatt rasiert, das grüne Haar zu einem Knoten gebunden. Seine Haut war von tiefem Dunkellila und seine Augen leuchteten in einem goldenen Farbton. Beide waren verschwitzt und rußverschmiert. Offensichtlich hatten sie versucht, die Flammen zu bekämpfen. Jetzt kamen weitere an und schauten vorsichtig, aber auch neugierig.
Die Frau las in Thralls Gesicht und dann erkannte sie ihn.
„Thrall“, sagte sie ungläubig. Sie blickte zu dem Schicksalshammer, der auf dem Boden lag, dann wieder auf ihn.
„Der Kriegshäuptling der Horde?“, fragte eine andere Stimme.
„Nicht mehr, zumindest wenn die Gerüchte stimmen“, sagte die Frau. „Wir haben gehört, dass er verschwunden ist – er hat sein Amt als Kriegshäuptling niedergelegt. Wo er hingegangen ist, haben die Wächterinnen nicht gesagt. Ich bin Erina Weidenkind, eine Wächterin, und das ist Desharin Grünweise, einer der Druiden der Kralle. Ich war einst Teil der diplomatischen Vertretung in Orgrimmar.“ Erina hatte ihre Gleve abwehrend vor sich gehalten, jetzt senkte sie sie. „Ihr seid eine viel zu wichtige Person, um zu unserem Lager zu kommen. Wer hat Euch geschickt?“
Thrall seufzte innerlich, er hatte gehofft, die Einzelheiten seiner Aufgabe verschweigen zu können. „Die Gerüchte stimmen. Ich habe mein Amt niedergelegt, um dabei zu helfen, den Schaden zu heilen, den Azeroth durch den Kataklysmus erlitten hat. Beim Mahlstrom habe ich mit anderen Mitgliedern des Irdenen Rings zusammengearbeitet. Dort hat mich Ysera, die Erwachte, aufgespürt“, sagte er. „Sie hat mir von den Problemen in Träumersruh berichtet. Dass Ihr keinen Schamanen habt, der Euch dabei helfen kann, mit den Elementen in Kontakt zu treten.“
„Und das soll ich glauben?“, fragte Erina.
„Ich tue es“, sagte Desharin. Erina blickte ihn überrascht an. „Thrall war stets gemäßigt, selbst als Kriegshäuptling. Und jetzt dient er dem Irdenen Ring. Vielleicht wurde er wirklich hierher gesandt.“
„Von einem Drachen“, meinte Erina sarkastisch. „Entschuldigt bitte... und nicht irgendein Drache, sondern Ysera vom Smaragdgrünen Traum. Und er hat den Schicksalshammer bei sich.“
„Wer sonst könnte Druiden helfen wollen?“, entgegnete Desharin. „Und der Schicksalshammer gehört ihm doch. Er kann ihn tragen, wo immer er will.“
Darauf hatte die Wächterin keine Antwort und wandte sich jemand anderem zu, der hinzugetreten war. Auch er hatte langes grünes Haar, das offen herabhing, und auch er trug einen kurzen Bart. Sein Gesicht war verwittert und weise und er betrachtete Thrall nachdenklich.
„Das ist Euer Lager, Telaron“, sagte Erina respektvoll. „Sagt uns, was wir tun sollen. Er ist ein Orc und unser Feind.“