Thrall tat dasselbe. Desharin hatte recht. Natürlich war ihm das vertraut. Er beobachtete den Drachen einen Moment, seine Gedanken aber tauchten nicht tief genug ab, sondern blieben bei den Ereignissen, die kürzlich geschehen waren. Er hatte die Führerschaft über die Horde abgegeben, war nach Nagrand gereist und hatte Aggra kennengelernt. Dann war da Cairnes Tod gewesen. Und der Kataklysmus hatte die Welt aufgerissen und sie auf den Kopf gestellt. Und schließlich seine Unsicherheit und die Unfähigkeit, sich zu fokussieren. Dann noch Yseras Aufgabe und das Zusammentreffen mit den Urtumen... und letztlich dieser Drache, der vor ihm saß und der nicht wie sein wahres Ich wirkte. Vielmehr erinnerte er an einen meditierenden Nachtelfen.
Dieser Ort zerrte an den Nerven. Thrall wollte die Augen nicht schließen und sein Inneres erforschen. Er wollte in die Höhlen der Zeit.
Und das würde er, schon bald. Aber er musste sich auf so eine wichtige Aufgabe so gut wie möglich vorbereiten. Und so schloss er, wenn auch ungern, die Augen und begann, langsam und ruhig zu atmen.
Es geschah blitzschnell. Erst als er den Lufthauch spürte, der über seine Wange strich und ihn so an die Gefahr gemahnte, öffnete er die Augen. Doch da war Desharins Kopf bereits von den Schultern getrennt worden.
Thrall warf sich zur Seite und landete auf den Füßen. Er gönnte dem Leichnam seines neuen Freundes keinen Blick. Desharin war tot und Thrall würde ihm bald folgen, wenn er nicht vorsichtig war. Er griff nach dem Schicksalshammer, packte ihn und wirbelte ihn mit der Leichtigkeit und Geschwindigkeit langer Vertrautheit herum. Seine Augen waren fest auf die plötzliche Bedrohung gerichtet: Sie war groß, doch nicht so groß wie ein Orc, und sie trug eine schwere schwarze Plattenpanzerung. Stacheln ragten aus Ellbogen, Schultern und Knien hervor. Und gepanzerte Hände hielten ein großes, leuchtendes zweihändiges Breitschwert. Aber was ein Streich gegen die Körpermitte des Fremden hätte werden sollen, um dessen Rüstung wie einen billigen Zinnkrug zu zerquetschen, traf nur auf leere Luft.
Sein Feind taumelte weg und der schwere Kopf des Schicksalshammers verpasste ihn um knapp eine Fingerbreite. Überrascht verlor Thrall eine wertvolle Sekunde bei dem Versuch, den mächtigen Schlag abzubremsen und den Hammer für einen zweiten Hieb herumzuwirbeln. Sein Angreifer hatte sich bereits erholt und schlug mit seinem massiven Breitschwert auf ihn ein, das vor Magie nur so leuchtete. Der Schlag kam viel schneller, als Thrall geglaubt hatte. Der Orc hatte eine düstere Vorahnung. Wer w a r dieser unbekannte Feind? Wild, schnell, stark...
Instinktiv ließ er sich von dem Schwung des Schicksalshammers aus dem Weg des angreifenden Gegenübers tragen. Er löste eine Hand von dem Griff, hob den Hammer und rief einen starken, konzentrierten Windstoß herbei. Der Mensch – zumindest glaubte Thrall angesichts der Größe und Art der Rüstung, dass es einer war – taumelte und fiel beinahe in den weichen Sand. Erneut rief Thrall den Wind und mehrere Handvoll Sand erhoben sich und rasten auf die Vorderseite des Helms zu. Der Helm bot zwar etwas Schutz, aber nicht genug – der Sand, von Thrall geleitet, durchdrang die Augenschlitze und machte den Gegner zeitweise blind. Ein Schrei drang aus dem Helm, die Stimme eines männlichen Menschen, der vor Schmerz und Wut heulte. Er hob sein Schwert, um das Gesicht abzuschirmen. Die leuchtende Aura des Breitschwerts pulsierte rot und so wütend wie ihr Herr, dann senkte sie sich auf Thrall herab.
Thrall erkannte, dass er nicht nur einem überraschend wendigen und starken Gegner gegenüberstand, sondern zudem einem, der eine Waffe führte, die genauso mächtig war wie der Schicksalshammer.
Desharin hatte es unvorbereitet erwischt – doch das hätte nicht sein dürfen. Wie hatte dieser Mann seine Anwesenheit verbergen können? Wie hatte er sich vor einem grünen Drachen und dem ehemaligen Kriegshäuptling der Horde verstecken können? Wo waren die anderen bronzenen Drachen? Thrall dachte daran, sie zu rufen, aber sie waren wahrscheinlich zu weit entfernt: Er und Desharin hatten – närrischerweise, im Rückblick – einen abgelegenen Ort für ihre Meditation aufgesucht.
Geister der Erde, werdet ihr mir helfen?
Ein Loch tat sich unter dem eine Fuß des schwarz gepanzerten Mannes auf. Er taumelte und stürzte auf ein Knie. All seine Anmut und Kraft verwandelten sich in verzweifelte Tollpatschigkeit, als er versuchte, sein Bein zu befreien. Thrall zischte, hob den Schicksalshammer und schlug damit zu...
Es klirrte und er traf auf die Klinge des zweihändigen Schwertes. Eine gepanzerte Hand hielt die Klinge gepackt. Magie knisterte entlang der Waffe und der Mensch drückte so kräftig, dass Thrall rückwärts taumelte, als würde er von einer Riesenhand weggeschleudert. Der Mensch war wieder auf den Beinen, stand über Thrall, die leuchtende Waffe erhoben. Er stach mit dem Schwert zu.
Thrall rollte sich zur Seite, doch nicht schnell genug. Das Schwert erwischte zwar nicht seinen Oberkörper, doch es fügte ihm eine Wunde an seiner Seite zu. Thrall sprang auf die Füße.
In diesem Moment fiel ein großer Schatten über sie. Bevor er begriff, was geschah, wurde Thrall von einer riesigen Hand gepackt. Der Drache war alles andere als freundlich.
„Wir kümmern uns um den Eindringling“, grollte der Drache. „Deine Aufgabe ist es, Nozdormu zu finden!“ Und da bemerkte Thrall, dass der Drache genau auf den wirbelnden, peitschenden Umriss des Portals zu einem der Zeitwege zuflog – zu welchem, wusste er nicht.
Bevor Thrall etwas sagen konnte – oder auch nur Luft holen konnte –, ließ sich der Bronzedrache fallen und warf den hilflosen Orc durch das Portal. Bevor er darin verschwand, konnte Thrall seinen Feind hinter sich rufen hören, mit einer Stimme, die ihm merkwürdig bekannt vorkam.
„Du wirst mir nicht so leicht entkommen, Thrall! Du kannst dich da drin nicht ewig verstecken, und wenn du zurückkommst, werde ich dich finden! Ich werde dich finden und ich werde dich töten! Hörst du mich?!“
7
Unter seinen Füßen verwandelte sich der Sand, der Thrall so tückisch verlangsamt hatte, zu Gras und Erde. Über ihm erhoben sich statt der bizarren Decke der Höhlen der Zeit Pinienbäume, schwarzen Himmel und blinkende Sterne. Thrall wurde langsamer, blieb ganz stehen und versuchte seinen Aufenthaltsort zu ermitteln.
Der vertraute Geruch der Pinien und der Erde, verstärkt durch die neblige und leicht frostige Luft, verriet ihm, wo er war. Ein Strom plätscherte in ein paar Metern Entfernung und Thrall erhaschte einen Blick auf den buschigen weißen Schwanz eines Fuchses. Thrall war nie an genau diesem Ort gewesen, dennoch kannte er ihn. Er war hier aufgewachsen. Er befand sich in den Ausläufern des Hügellandes in den Östlichen Königreichen.
So, überlegte er, ich weiß, wo ich bin. Doch viel wichtiger ist die Frage... wann?
Er hatte etwas getan, was nur wenige getan hatten. Etwas, was er vor einiger Zeit noch nicht für möglich gehalten hätte.
Wann war er?
Er lehnte sich schwer gegen einen Baum, ließ den Schicksalshammer zu Boden gleiten, als ihn die Erkenntnis traf. Er war von Desharins plötzlichem Tod und der Wucht des Angriffs zu abgelenkt gewesen, um wirklich zu bemerken, was er tat.
Der Schnitt an seiner Seite verlangte Aufmerksamkeit. Thrall drückte eine Hand auf die Wunde, die Heilung brauchte. Seine Hand leuchtete sanft, spendete Wärme und die Wunde darunter schloss sich. Er zog seine Sachen aus, reinigte sie im Strom vom Blut und wollte gerade in neue Kleidung schlüpfen, als Stimmen an sein Ohr drangen.
Die Stimmen von Orcs.
Schnell wickelte er den zu leicht erkennbaren Schicksalshammer in die alten Sachen und verstaute ihn, so gut es ging, in seinem Rucksack. Er hoffte, die Orcs erspähen zu können, während er gleichzeitig über eine plausible Geschichte nachdachte.