Thrall schüttelte den Kopf. „Du würdest mir nicht glauben, Durotan, Sohn von Garad. Doch ich bitte dich... bei den Ahnen, ich bitte dich, das zu glauben: Dein Sohn wird leben. “
Hoffnung flackerte in den schwächer werdenden Augen.
Thrall sprach schnell, bevor es zu spät war. „Er wird leben und stark werden. Er wird sich daran erinnern, was es bedeutet, ein Orc zu sein, und sowohl Krieger wie auch Schamane werden.“
Der Atem kam schnell, zu schnell. Durotan kämpfte, um am Leben zu bleiben, und hörte verzückt zu.
„Unser Volk wird sich von der Dunkelheit des Gul’dan erholen. Wir werden heilen. Wir werden eine Nation werden, stolz und mächtig. Und dein Sohn wird von dir und seiner tapferen Mutter wissen und ein großes Land nach dir benennen.“
„Wie... kannst du das wissen...?“
Thrall unterdrückte die Tränen und legte eine Hand auf die Brust seines Vaters, neben die so viel jüngere Version seiner selbst. Der Herzschlag schwand.
„Vertrau darauf, dass ich es weiß“, sagte Thrall, seine Stimme erschüttert von Gefühlen. „Dein Opfer war nicht umsonst. Dein Sohn lebt, um die Welt zu ändern. Das verspreche ich dir.“
Die Worte waren einfach so aus ihm herausgesprudelt und Thrall erkannte, während er sie aussprach, dass sie stimmten. Er hatte gelebt und er hatte die Welt verändert – indem er sein Volk befreite, indem er die Dämonen bekämpfte, indem er den Orcs eine Heimat gab.
„Das verspreche ich“, wiederholte er.
Durotans Gesicht entspannte sich und ein schwaches Lächeln glitt über seine Lippen. Thrall nahm das Baby und hielt es ihm sehr lange ans Herz.
Das Kind schlief schließlich. Thrall hielt es und schaukelte es durch die Nacht. Seine Gedanken und sein Herz drohten zu bersten.
Es war eine Sache, davon zu hören, wie seine Eltern dabei gestorben waren, ihn zu beschützen. Es war eine ganz andere, tatsächlich dabei gewesen zu sein. Als Säugling war er aufrichtig und innig geliebt worden, ohne dass er dafür etwas tun musste. Dieses Kind hatte keine Leistungen erbracht, hatte keine Leben gerettet, keine Schlachten gewonnen, keine Dämonen besiegt. Es wurde einfach um seiner selbst wegen geliebt – Tränen und Geschrei, Lachen und Weinen.
Mehr als alles im Leben hatte Thrall sich gewünscht, seine Eltern retten zu können. Doch die Zeitwege waren gnadenlos. Was geschehen war, musste geschehen, ansonsten musste es von den Agenten des bronzenen Drachenschwarms korrigiert werden.
„Es muss richtig gemacht werden.“ Gute Leute mussten sterben, unschuldige Leute – das bedeutete, etwas richtig zu machen. Es war grausam. Es war vernichtend. Doch er verstand es.
Thrall blickte auf, zuckte zusammen und sah von der Stelle weg, wo die hingemetzelte Familie lag. Er blinzelte. Etwas wurde vom Wasser reflektiert – etwas Goldenes, Leuchtendes und Schuppiges...
Thrall versuchte zu erkennen, woher die Spiegelung kam. Doch da war nichts: nur Bäume, Erde und Himmel. Es war kein Riesendrache da, wie er erwartet hatte. Er stand auf, hielt das Kind und sah wieder auf das Wasser.
Ein großes Auge schaute ihn daraus an.
„Nozdormu?“ Der Fluss war viel zu klein, um einen Drachen zu beherbergen – es musste eine Reflexion sein... und dennoch...
Thralls Konzentration wurde durch ein plötzliches Schreien unterbrochen. Es schien, dass der kleine Thrall aufgewacht war – und hungrig. Thrall wandte seine Aufmerksamkeit dem Kind zu, versuchte etwas zu flüstern, das Baby zu beruhigen, dann sah er zurück auf das Wasser. Die Reflexion war fort. Doch Thrall war sicher, dass er sie gesehen hatte. Er sah sich um. Nichts.
Eine menschliche Stimme schnitt durch die Stille des Waldes. „Beim Licht, was für ein Lärm!“ Die Stimme war voll respektvoller Anteilnahme. „Wir können auch genauso gut umdrehen, Leutnant. Etwas derart Lautes hat sicherlich jegliches Wild hier draußen verschreckt.“
„Hast du denn nichts bei mir gelernt, Tammis? Es geht genauso darum, von dieser verdammten Festung wegzukommen wie das Mittagessen mitzubringen. Soll doch, was immer das ist, weiterheulen, wie es will.“
Thrall kannte die Stimme. Hatte gehört, wie sie Lob aussprach. Doch öfter hatte er sie Flüche ausstoßen hören, voll wütender Verachtung. Dieser Mann war Teil seiner Bestimmung gewesen. Dieser Mann war der Grund, warum er immer noch den Namen Thrall trug – ein Name, um jedermann zu zeigen, was der Orc nicht mehr war.
Die Stimme gehörte zu Aedelas Schwarzmoor.
Jeden Moment würden Schwarzmoor und sein Begleiter – der Tammis Foxton sein musste, Schwarzmoors Diener und Taretha Foxtons Vater – auf diese Lichtung treten. Schwarzmoor würde das Baby finden, das Thrall gerade in seinen Armen hielt, und es als sein eigenes mitnehmen. Er würde Thrall das Kämpfen, das Töten und die Kriegskunst beibringen. Und dann eines Tages würde Thrall ihn töten.
Behutsam legte Thrall das Kind auf den Boden. Seine Hand ruhte einen Moment auf dem kleinen schwarzen Kopf und liebkoste die noch nicht ausgeblichene Windel.
„So ein zärtlicher und doch grotesker Moment.“
Thrall wirbelte herum, zog den Schicksalshammer und stellte sich zwischen das Kind und den Besitzer der Stimme. Der geheimnisvolle Mörder, der ihn in den Höhlen der Zeit angegriffen hatte, stand nur ein paar Schritte entfernt. Thrall hatte geglaubt, dass die Bronzedrachen mit ihm fertig werden würden. Doch es schien, dass er trotz seines frustrierten Aufschreis den Bronzedrachen entkommen und irgendwie in diesen Zeitweg gelangt war. Und Thrall gefunden hatte.
Wieder konnte Thrall sich nicht dieses befremdlichen Gefühls der Vertrautheit erwehren. Die Rüstung – die Stimme...
„Ich kenne Euch“, sagte er.
„Dann sag meinen Namen.“ Es war eine angenehme, dröhnende Stimme, in der Schalk mitschwang.
Thrall knurrte. „Ich kann Euch nicht benennen – noch nicht –, aber da ist etwas an Euch...“
„Ich sollte dir wirklich danken“, fuhr der Meuchelmörder fort. „Mein Meister hat mir eine Aufgabe gestellt, und zwar den mächtigen Thrall zu töten. Du bist mir bereits einmal durch die Finger geschlüpft. Und vielleicht gelingt es dir noch einmal. Doch du hast etwas vergessen, eine... kleine... Sache...“
Mit jedem der letzten Worte machte der Mörder einen Schritt vorwärts und Thrall erkannte plötzlich, was er meinte. Er packte den Schicksalshammer fester und richtete sich zu voller Größe auf. Der Mensch war groß für sein Volk, fast so groß wie ein Orc.
„Ihr werdet diesem Kind nichts tun!“, zischte Thrall.
„Oh, ich glaube, das werde ich doch“, entgegnete die Gestalt in der schwarzen Rüstung. „Siehst du... ich weiß, wer hier in ein paar Augenblicken auftauchen wird. Und das ist jemand, den du nicht verletzen willst – weil dann dieser Zeitweg genauso verletzt würde, wie wenn deine Eltern überlebt hätten. Du weißt, Aedelas Schwarzmoor wird hier erscheinen, das kleine grüne Baby mitnehmen und es zu einem Gladiator erziehen. Und du willst doch bei diesem Treffen garantiert nicht dabei sein.“
Verflucht sollte der Bastard sein, er hatte recht. Thrall durfte nicht gesehen werden. Und er durfte Schwarzmoor nicht bekämpfen und riskieren, ihn zu verletzen oder gar zu töten.
Noch nicht.
„Deshalb musst du fort. Doch du musst auch dein jüngeres Ich verteidigen. Weil es meine Aufgabe ist, dich zu töten... Und es ist doch viel leichter, ein Baby zweizuteilen als einen ausgewachsenen Orc. Obwohl ich das schon oft gemacht habe, wie ich mir immer sage. Was soll ich tun, was soll ich tun...?“
„Es hört nicht auf, beklagte sich Schwarzmoor. Er war nun näher, obwohl er noch immer einige Schritte von der Lichtung entfernt sein musste.
„Es könnte eine verletzte Kreatur sein, Sire, unfähig sich zu bewegen“, schlug Tammis vor.
„Dann sollten wir sie finden und von ihrem Elend erlösen.“
Der Fremde lachte und plötzlich war Thrall klar, was er tun musste. Stumm, obwohl seine ganze Seele danach lechzte, einen Kriegsruf auszustoßen, stürzte er sich auf den Mörder. Nicht mit dem Hammer, sondern mit seinem mächtigen Körper. Der Mensch hatte den Angriff nicht erwartet und schaffte es nicht einmal, die Waffe zu heben, bevor Thrall in ihn krachte. Der Schwung ließ sie beide in den glitzernden Strom stürzen.