„Was war das für ein Platschen?“ Leutnant Aedelas Schwarzmoor nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.
„Vielleicht eine der großen Schildkröten, die hier leben, Sire“, sagte Tammis.
Bereits angeheitert und auf dem Weg zur Volltrunkenheit nickte Schwarzmoor. Sein Pferd Nachtlied blieb stehen. Schwarzmoor starrte auf die Leichen von nicht weniger als drei erwachsenen Orcs und einem großen weißen Wolf. Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit und Schwarzmoor erkannte plötzlich die Quelle des schrecklichen Lärms. Es war das hässlichste Ding, das er jemals gesehen hatte – ein Orc-Baby, gewickelt in etwas, was zweifelsfrei bei diesen Kreaturen als Windel angesehen wurde.
Er stieg ab und ging zu ihm.
8
Mehrere Tage waren seit dem Debakel am Wyrmruhtempel vergangen. Kalec hatte – so dumm es nun auch klang – angenommen, dass mit dem tragischen, aber notwendigen Tod von Malygos etwas Heilung, etwas Frieden und Einheit zwischen den Drachenschwärmen entstehen würde. Er war zu dem Treffen mit Hoffnung im Herzen gekommen und nun lag so viel mehr als sein eigener Traum in Trümmern.
Der Verlust von so vielen Eiern von allen Schwärmen, die alle auf einmal vernichtet worden waren. Getötet von einem der ihren. Das war ein wirklich vernichtender Schlag, angesichts dessen Kalec sich fragte, ob sie sich davon je erholen würden. Korialstrasz, sein alter Freund, jemand, dem Kalec voll und ganz vertraut hatte... Er schüttelte den Kopf und senkte trauernd seinen großen Hals.
Ysera war erwacht, war aber immer noch unkonzentriert und verwirrt. Von ihrem Schwarm hatte er gehört, dass sie auf Wanderung gegangen sei. Nozdormu war seit einiger Zeit verschwunden. Alexstrasza, von Krasus’ Verrat zerschmettert, war fortgeflogen. Malygos war tot und Todesschwinge plante irgendwo auf der Welt ihrer aller Vernichtung.
Selbst die Ältesten unter ihnen gestanden sich ein, dass es seit Todesschwinges eigentlichem Verrat keine solche Zeit der Verzweiflung und des Chaos gegeben hatte.
Jeder Schwarm hatte sich in sich selbst zurückgezogen. Kalec hatte Freunde unter den meisten, doch der Kontakt zu ihnen war voller Spannungen gewesen. Auch wenn die grünen, roten und bronzenen Schwärme nicht wussten, wo sich ihre Aspekte derzeit aufhielten, lebten die immerhin noch. Das war bei den blauen Drachen anders und ihr Hauptaugenmerk hatte in diesen letzten Tagen darauf gelegen, das zu korrigieren.
Die Blauen waren sich auf dem Nexus nähergekommen, dem Ort, der immer ihre Heimat gewesen war. Dort, in ihren kalten Höhlen, hatten sie viel miteinander geredet, analysiert, theoretisiert und das magische Protokoll diskutiert. Doch nur sehr wenig war getan worden.
Kalecgos glaubte, dass sein Schwarm viel zu sehr an der Theorie interessiert war, wie sie vielleicht einen neuen Aspekt erschaffen oder wählen konnten, als dass jemand die drängende Notwendigkeit erkannt hätte, tatsächlich einen zu haben. Doch ihm war klar, dass das kaum verwunderlich war. Die blauen Drachen liebten intellektuelle Herausforderungen. Nur die Verachtung, die sie für die „niederen Völker“ empfanden, hielt sie davon ab, verschiedene Gestalten anzunehmen – wie der verstorbene Krasus es getan hatte –, um sich unter andere Magiebenutzer zu begeben, wie etwa die Magier der Kirin Tor. Arkane Magie – kalt und intellektuell – war ihr Geburtsrecht. Das ging noch auf die Entscheidung der Titanen zurück, Malygos zum Aspekt der Magie in dieser Welt zu machen. Die jüngeren Völker hatten damit nichts zu tun. So glaubten zumindest viele. Eigentlich waren es Kalecs Meinung nach zu viele.
Methoden, wie man einen neuen Aspekt erschuf oder wählte, schien es so viele zu geben wie blaue Drachen. Oder – so verbesserte sich Kalec, dessen Nüstern vor Verärgerung leuchteten – so viele, wie jeder Drachen Schuppen hatte.
Eine frühe Furcht war schnell beruhigt worden, als einer der jüngeren blauen Drachen besorgt gefragt hatte: „Was, wenn es keinen neuen Aspekt gibt? Die Titanen haben Malygos zum Aspekt der Magie gemacht. Was, wenn nur die Titanen einen neuen ernennen können und die anderen Schwärme uns dazu verdammt haben, für immer ohne Aspekt leben zu müssen?“
Die älteren Drachen hatten die Köpfe geschüttelt und waren völlig unbesorgt. „Wir alle wissen, dass die Titanen mächtig und weise waren“, hatte einer von ihnen gesagt. „Wir gehen davon aus, ihnen war klar, dass so etwas eines Tages passieren könnte. Unsere Gelehrten sind sich sicher, mit genug Forschung herausfinden zu können, was wir tun sollen.“
Kalecgos glaubte ihnen. Er glaubte an die Weisheit der Titanen, die vor so langer Zeit alle Aspekte ernannt hatten. Andere blaue Drachen glaubten aber mehr an die Überlegenheit und Fähigkeiten des blauen Schwarms selbst. Sie würden sicherlich bald eine eigene Methode bevorzugen. Ihnen mangelte es nicht an Theorien.
Laut der Legende gab es bei der ersten Erschaffung der Aspekte eine seltene Verbindung zwischen Azeroths beiden Monden. Eine Wiederholung derselben Konstellation würde in wenigen Tagen stattfinden. Einige erachteten dies für elementar, damit die Magie richtig wirken konnte, die nötig war, um einen normalen blauen Drachen in einen Aspekt zu verwandeln. Sie hielten es letztlich für eine Frage des richtigen Zeitpunkts.
Andere wollten, dass eine Mehrheit der blauen Drachen bei der Zeremonie anwesend war. „Wir werden einen Aspekt bekommen, auf die eine oder andere Weise“, sagte einer der pragmatischeren magischen Gelehrten. „Wenn es keine physische Transformation gibt, gewährt von der Konjunktion der beiden Monde, dann können wir als Schwarm entscheiden, wen wir für den besten Anführer halten.“
„Es ist ja auch nicht so, dass der große Malygos starb, ohne Nachkommen zu hinterlassen“, hatte Arygos sich zu Wort gemeldet. „Ich selbst bin ein Kind von Malygos und seiner ersten Gefährtin. Es könnte gut sein, dass mir die Fähigkeit im Blut liegt, ein Aspekt zu sein. Wir müssen das unbedingt in Erwägung ziehen.“
„Es gibt nichts, was darauf hinweist“, hatte Kalecgos darauf erwidert. „Nicht alle Aspekte waren ursprünglich verwandt.“ Er mochte Arygos’ Einstellung nicht und er wusste, dass der Sohn des Malygos sich von allen bedroht fühlte, die er „Emporkömmlinge“ nannte. Wenn es eine Teilung zwischen den Drachenschwärmen gab, so gab es auch eine Teilung innerhalb der blauen Drachen. Malygos’ Geist war immer noch vorhanden. So gab es da jene wie Arygos, die in den Fußspuren des alten Aspekts wandelten und sich so weit wie möglich aus dieser Welt zurückziehen wollten. Und diejenigen, die wie Kalec dachten: Sie lebten nun einmal in dieser Welt und mussten sich mit den anderen Völkern und Schwärmen verbinden. Dadurch würde der blaue Drachenschwarm nur stärker und bereichert.
Es hatte unterschwellig bereits vor dem Angriff der Zwielichtdrachen eine Teilung im blauen Drachenschwarm geherrscht. Doch nun klaffte ein leuchtender, offener Riss. Einer, der Kalec nicht gefiel, doch er war nicht so naiv, ihn zu ignorieren. Er mochte dieses ganze neue Konzept des „Wählens“ nicht. Schon gar nicht von einem Aspekt. Denn dann wäre es nur noch ein leerer Titel ohne echte Macht dahinter. Schließlich war das Konzept der Aspekte seit Anbeginn der Zeiten ein Teil dieser Welt gewesen. Nur die Erinnerungen der Urtume mochten weiter zurückreichen. Man konnte daraus keinen Wettbewerb machen, um den blauen Drachen zu belohnen, der am beliebtesten war oder der den größten Teil des Schwarms beeinflussen konnte... Er schüttelte wütend den Kopf und entfernte sich von der Diskussion.
Arygos bemerkte es und rief: „Kalecgos! Wo gehst du hin?“
„Ich brauche etwas frische Luft“, gab Kalec über die Schulter zurück. „Hier drin ist es mir zu stickig.“