Der Mensch mit der schweren Rüstung sank wie ein Stein, obwohl er tapfer gekämpft hatte. Er ließ sein riesiges Schwert los und klammerte sich stattdessen mit der behandschuhten Hand an Thralls Kleidung fest. Sie sanken zusammen hinab. Thrall versuchte mit seiner Waffe den Arm des Mannes wegzuschlagen. Doch seine Bewegungen wurden durch das Wasser zu sehr verlangsamt. Stattdessen zerrte er an der Hand des Menschen und bog, indem er seine überlegene Stärke einsetzte, dessen Finger auf.
Luftblasen quollen aus dem Helm des Menschen, als er Thralls Robe loslassen musste und die andere Hand nach ihm ausstreckte, doch Thrall trat fest zu und schwamm außerhalb seiner Reichweite.
Das war der Moment, in dem er erkannte, dass dieser Strom viel tiefer war, als es schien. Viel tiefer, als er eigentlich sein konnte. Er erspähte ein Glitzern aus den Augenwinkeln und wandte den Kopf. Es war das glitzernde Gold von Bronzedrachenschuppen – dasselbe Bild, das er zuvor auf dem Wasser gesehen hatte. Thrall bemerkte plötzlich, dass das heiße, brennende Gefühl seiner Lungen nach Luft schwand. Das hing irgendwie mit der Magie der Zeitwege zusammen und er wusste es, er akzeptierte es. Er hielt den Blick auf die verführerischen Schuppen gerichtet und schwamm darauf zu.
Das Wasser über ihm schimmerte und er spürte eine merkwürdige kribbelnde Wärme überall entlang seines Körpers. Die Schuppen verschwanden. Er durchstieß die Oberfläche...
... des Meeres. Als er sich umsah, um sich zu orientieren, erkannte er mehrere Schiffe. Oder zumindest das, was von ihnen übrig war.
Das waren die Schiffe, die er, Grom Höllschrei und die anderen Orcs von den Menschen gestohlen hatten, um dem Rat des merkwürdigen Propheten zu folgen – des Propheten, der sie dazu gedrängt hatte, die Östlichen Königreiche Richtung Kalimdor zu verlassen.
Thrall trieb vor der Küste und sah sich zwischen den im Wasser treibenden Wrackteilen um. Er packte eine Kiste und schwamm an Land. Als er festen Böden unter den Füßen spürte, rief ihn jemand.
„Kriegshäuptling!“
Wie lange, überlegte Thrall, war es her, dass er so angesprochen worden war? Er wandte sich um – und erspähte einen laufenden Orc...
„Hier“, sagte ein anderer Thrall. „Das bin ich...“
Gerade noch hatte er sich selbst als Kind gesehen. Doch das schien nun schon eine Weile her zu sein und er erkannte, dass er eine andere Version seiner selbst vor sich hatte. Er hörte der Unterhaltung zu und versuchte, nicht dabei erwischt zu werden, wie er den Thrall dieses Zeitwegs anstarrte. Das war noch viel merkwürdiger als damals, als er während der schamanischen Initiation eine andere Version seiner selbst gesehen hatte. Diesmal stand er physisch nur wenige Meter von sich selbst entfernt.
„Unser Schiff hat schweren Schaden erlitten, als wir durch den Mahlstrom gefahren sind“, berichtete der Orc.
Wieder ein merkwürdiger Stich. Der Mahlstrom... der Ort, den er verlassen hatte. Der Ort, wo Todesschwinge durchgebrochen war. Der Ort, den der Irdene Ring verzweifelt heilen wollte. Er schüttelte den Kopf, verwundert, wie viel sich in wenigen fahren geändert hatte.
„Wir müssen es ausschlachten“, grunzte der Orc.
Der Thrall dieses Zeitwegs nickte. „Können wir unsere Position bestimmen? Ist das hier Kalimdor?“
„Wir sind nach Westen gefahren, wie befohlen. Das sollte es sein.“
„Sehr gut.“
Immer noch verstohlen zusehend, erinnerte sich Thrall an den Moment vor acht Jahren, erinnerte sich, was ihm am wichtigsten gewesen war.
„War irgendein Zeichen von Grom Höllschrei oder einem der anderen Schiffe auszumachen?“, fragte der Thrall dieses Zeitwegs.
„Nein, Kriegshäuptling. Nicht, seit wir getrennt wurden.“
„Hm. Bereitet euch zum Abmarsch vor. Wenn unsere Kameraden es bis hierher geschafft haben, sollten wir sie entlang der Küste finden.“
Thrall wandte sich wieder dem langen Sandstrand zu – und erspähte ein goldenes Glimmern. Es verschwand sofort wieder. Es hätte nicht mehr als eine Spiegelung in der Sonne sein können. Doch Thrall wusste es besser.
Die anderen waren damit beschäftigt, die beschädigten Schiffe auszuschlachten und die Vorräte an Land zu bringen. Bald schon würde das Lager errichtet sein. Thrall überließ das seinem jüngeren Ich.
Er ging nach Westen und folgte den leuchtenden Schuppen. Dieses Mal fand er ein kleines Loch in der Erde von der Größe eines Kaninchenbaus. Und darum herum... der nun vertraute Glimmer der Zeitwegportale.
War Nozdormu tatsächlich gefangen? Thrall fragte sich das, während er weiterging. Oder führte er Thrall nur auf seiner Suche?
Das Loch wuchs und nahm ihn auf. Er stürzte, doch bevor er erschrecken konnte, kam er auf der anderen Seite heraus, kletterte aus dem Portal und sah im Gras vor sich einen großen schwarzen Vogel sitzen. Er neigte den Kopf und fixierte ihn mit seinen leuchtenden roten Augen.
Der Schnabel öffnete sich: „Seid gegrüßt, Sohn von Durotan. Ich wusste, dass Ihr den Weg finden würdet.“
Medivh! Der große Magier war Thrall im Traum erschienen und hatte ihm befohlen, ihm zu folgen. Thrall hatte gehorcht und Medivh hatte seine Ausdauer belohnt. Doch war er bei dem Gespräch damals nicht in Menschengestalt erschienen?
Thrall versuchte sich zu erinnern, was er gesagt hatte. „Euch habe ich in meinen Visionen gesehen. Wer seid Ihr? Woher kennt Ihr mich?“
Der Rabe neigte den schwarzen Kopf. „Ich weiß viele Dinge, junger Kriegshäuptling, über Euch und Euer Volk. Zum Beispiel, dass Ihr nach Nozdormu sucht.“
Thralls Mund öffnete sich.
„Ihr befindet Euch jenseits der Zeit... und das auf viele Arten. Wisset, dass ich die Zukunft und den brennenden Schatten gesehen habe, der die Welt verschlingen will. Und als ich diese Zukunft erkannte, habe ich auch noch andere gesehen. Ich verrate Euch, was ich kann, den Rest müsst Ihr selbst besorgen.“
Thrall lachte plötzlich und fragte sich, warum er so überrascht war. Es handelte sich schließlich um Medivh. Er wusste nicht genau, was er wirklich war. Doch in der Zeit herumzuspringen, war für ihn anscheinend nicht unmöglich.
„Es war klug, damals auf Euren Rat zu hören“, sagte er. „Ich glaube, das wird es auch diesmal sein.“
„Könnt Ihr weben, Thrall?“
Von der Frage überrascht antwortete Thralclass="underline" „Ich... habe einige Webarbeit gesehen, doch es ist sehr kompliziert und ich beherrsche dieses Handwerk nicht.“
„Ihr müsst es auch nicht beherrschen“, sagte der Rabe, der keiner war. „Der Umgang mit Durchschuss und Faden. Das Muster erkennen. Das Schiffchen führen. Dabei erkennt man schnell, dass etwas, was vorher nicht existierte, direkt vor Euren Augen entsteht. Das Weben ist eine eigene kleine Welt für sich. Und Euch wird klar werden, dass es ausreicht, an einem losen Faden zu ziehen, wenn man einen Teil auftrennen will.“
Thrall schüttelte langsam den Kopf. „Magier, Ihr verwirrt mich. Ich habe heute den Mord an meinen Eltern erlebt. Habe gegen einen geheimnisvollen Meuchelmörder gekämpft, der wahrscheinlich vom ewigen Drachenschwarm geschickt wurde. Und ich versuche, den Zeitlosen zu finden, der mich auf eine fruchtlose Suche führte. Und der beste Rat, den Ihr mir geben könnt, ist, über das Weben nachzudenken?“
Der Vogel vollführte so etwas Ähnliches wie ein Achselzucken, indem er den Kopf senkte und die Schultern hob.
„Hört mir zu. Ich weiß, was Ihr sucht. Achtet darauf, dass Ihr auch das Richtige sucht. Dieser Ort ist voller Illusionen. Es gibt nur einen Weg, herauszufinden, was Ihr wirklich sucht – nur einen Weg, wie Ihr Euch selbst finden könnt. Lebt wohl, Go’el, Sohn von Durotan und Draka.“ Die Flügel des Vogels flatterten und binnen weniger Sekunden war er außer Sicht geschwebt.
Thrall wusste nicht mehr ein noch aus. Worte kamen über seine Lippen und er war überrascht über ihren Inhalt. „Nichts davon ergibt einen Sinn, doch die Geister sagen mir... dass ich ihnen vertrauen soll.“
Das waren exakt dieselben Worte, die er am Ende seines allerersten Treffens mit Medivh gesprochen hatte. Und er erkannte erschrocken, dass die Worte so wahr waren wie damals. Die Geister hatten ihm geraten, dem Magier zu trauen. Er schloss die Augen und wandte sich ihnen zu. Den Elementen von Erde, Luft, Feuer, Wasser – und dem letzten Element: dem Leben, das immer in seinem Herzen war.