„Ich, die Freundin eines Orcs?“ Unglaube ließ ihre Stimme schrill werden. „Das halte ich für sehr unwahrscheinlich.“
„Nein“, sagte er, „sogar höchst unwahrscheinlich. Aber wundervoll. Du hast dich an das Baby erinnert, um das deine Mutter sich gekümmert hat, und du mochtest es – mich. Und du hast gehasst, was sie mit mir machten. Ich habe dich gerade erst getroffen, doch ich weiß bereits etwas von dir. Ich glaube, du magst es nicht, wenn denen Gewalt angetan wird, die sich nicht verteidigen können.“
Das Gewehr wackelte zum zweiten Mal und ihre Augen flackerten für eine Sekunde, bevor sie ihren Blick wieder auf ihn richtete. Hoffnung erfüllte Thralls Herz. Was immer diese freundliche junge Frau so schroff und verbittert hatte werden lassen, konnte nichts daran ändern, dass immer noch Taretha in ihr steckte. Und wenn sie immer noch Tari war, dann konnte er sie vielleicht auch erreichen. Konnte ihr helfen, irgendwie, und zwar auf diesem Zeitweg, auf eine Art, zu der er in seinem eigenen Zeitweg damals nicht fähig gewesen war.
„Du hast mir bei der Flucht geholfen“, fuhr er fort. „Ich habe mein Volk aus den Internierungslagern befreit. Ich tötete Schwarzmoor und schliff Durnholde. Später vereinigten sich Menschen, Orcs und andere Völker, um einen Angriff von einer dämonischen Macht, genannt die Brennende Legion, auf unsere Welt abzuwehren. Und das alles nur dank dir, Tari. Mein Zeitweg schuldet dir sehr viel.“
„Das ist eine nette Geschichte und viel schlauer als jede, die ich von einem Orc erwartet hätte“, sagte Taretha. „Doch es ist eine Lüge. Die Welt hier ist sicherlich nicht so. Und das ist die einzige Welt, die ich kenne.“
„Was, wenn ich es beweisen könnte?“, fragte er.
„Das ist unmöglich!“
„Aber – wenn ich es könnte?“
Taretha war immer noch misstrauisch, doch er konnte erkennen, dass sie langsam neugierig wurde. „Wie?“, fragte sie.
„Du hast das Orc-Baby gesehen“ sagte Thrall. „Erinnerst du dich, welche Augenfarbe es hatte?“
„Blau“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen. „Niemand hatte je zuvor einen Orc mit blauen Augen gesehen.“
Thrall wies auf sein Gesicht. „Meine Augen sind blau, Taretha. Und auch ich kenne keinen anderen Orc mit blauen Augen.“
Sie schnaubte. „Als würde ich nah genug rankommen, um mitten in der Nacht in deine Augen zu schauen“, sagte sie. „Netter Versuch.“ Sie wies mit dem Kopf nach links. „Los, beweg dich, Grünhaut.“
„Warte. Da ist noch eine Sache... um dich zu überzeugen.“
„Ich habe genug davon.“
„Der Rucksack“, drängte er. „Schau in den Rucksack. Darin liegt ein kleiner Beutel. Und dann... findest du etwas, was du sicher erkennst.“
Er betete, dass er recht hatte. Der kleine Beutel enthielt ein paar Dinge. Seine Totems. Die Eichel natürlich – das Geschenk der Urtume. Ein Behelfsaltar mit Nachbildungen aller Elemente. Und... etwas Wertvolles. Etwas, was verloren gewesen war, doch was er wiedergefunden hatte... etwas, was er mit sich herumtragen würde, bis er starb.
„Wenn das ein Trick ist, verpasse ich dir ein Loch, so groß...“, murmelte sie, doch mit finsterem Blick und offensichtlich gegen ihr besseres Wissen kniete sie sich hin und begann, in dem Beutel zu wühlen. „Was suche ich denn?“
„Wenn ich recht habe... erkennst du es, wenn du es siehst.“
Sie murmelte wieder etwas, nahm das Gewehr in die rechte Hand und schüttelte den Beutel mit der linken aus.
„Also, ich sehe nur einen Stein, eine Feder, ein...“
Taretha verstummte. Sie starrte auf die kleinen Juwelen, die im Mondlicht glitzerten. Sie schien Thrall völlig vergessen zu haben, als sie mit zittriger Hand die silberne Kette hervorzog. Ein Halbmond hing daran. Sie blickte Thrall mit offenem Mund an und statt Wut, unterschwellige Angst und Hass, die ihr schönes Gesicht zuvor verzerrt hatten, lag darin Schrecken... und Verwunderung.
„Meine Kette“, sagte sie, ihre Stimme sanft.
„Die hast du mir gegeben“, sagte Thrall, „als du mir bei der Flucht geholfen hast. Da war ein umgestürzter Baum, in dem ich sie verstecken sollte. Nahe einem Fels, der aussah wie ein Drache.“
Langsam, ohne ihn anzusehen, legte sie das Gewehr hin. Mit ihrer anderen Hand griff Taretha unter ihr abgetragenes Leinenhemd und holte die Kette heraus, die identisch mit der war, die sie in der Hand hielt.
„Als ich klein war, war ein Zahn darin“, sagte sie. „Richtig... hier...“
In beiden Ketten befand sich exakt derselbe Zahn: mit einer leichten Missbildung am unteren Scheitel des Halbmonds.
Sie blickte zu ihm auf und zum ersten Mal konnte er die Taretha sehen, an die er sich erinnerte. Langsam ging er zu ihr und kniete sich neben sie.
Ihre Hand schloss sich um die zweite Kette, dann reichte sie sie ihm. Taretha ließ die Kette los und das Schmuckstück fiel in seine große grüne Hand. Sie sah ihn an, ohne Angst, und lächelte.
„Deine Augen“, sagte sie leise, „sind blau.“
Thrall war froh, aber nicht überrascht, dass Taretha ihm glaubte, so unglaubwürdig die Geschichte auch klingen mochte. Er hatte ihr einen Beweis geliefert, den sie nicht ignorieren konnte. Die Taretha, die er gekannt hatte, hätte solch einen Beweis völlig unbefangen anerkannt. Die Frau vor ihm war immer noch Taretha, sosehr sie sich von der freundlichen, herzlichen jungen Frau auch unterscheiden mochte, an die er sich erinnerte.
Sie redeten eine lange Zeit. Thrall berichtete ihr von seiner Welt, obwohl er Taretha nicht erzählte, was ihr dort widerfahren war. Er würde nicht lügen, wenn sie danach fragte, doch das tat sie nicht. Er erzählte ihr seine Geschichte und erwähnte die Aufgabe, die Ysera ihm aufgetragen hatte.
Und auch sie verriet ihm bruchstückhaft, wie sich die Dinge in diesem neuen Zeitweg entwickelt hatten, während sie das Feuer schürte.
„Oh, Schwarzmoor gibt es definitiv in diesem Zeitweg“, sagte sie bitter, als das Gespräch sich dem erbärmlichen Mann zuwandte. „Doch der aus deiner Welt gefällt mir besser.“
Thrall grunzte. „Ein ausgekochter, selbstsüchtiger Trunkenbold, der versucht, eine Armee von Orcs gegen seine eigenen Leute einzusetzen?“
„In diesem Zeitweg ist er ein selbstsüchtiger General, der keine Orc-Armee braucht, die er gegen seine eigenen Leute einsetzt“, sagte sie. „Nach allem, was du mir erzählt hast“, sie wandte ihren kurz geschorenen Schädel seinem kräftigen Kopf zu, „bist du ein mächtiger Krieger. Das glaube ich dir auch. Offensichtlich hat sich Schwarzmoor zu sehr auf dich und seinen geheimen Plan verlassen. Als du starbst, musste er die Arbeit selbst tun.“
„Normalerweise ist das ein begrüßenswerter Charakterzug“, sagte Thrall.
„Normalerweise. Doch er ist kaum... normal.“ Sie wandte sich ab. Etwas lag in ihrer Miene, was Thrall augenblicklich aufschreckte. Eine merkwürdige Wut und... Scham?
„Er... du warst auch in diesem Zeitweg seine Geliebte“, sagte er. „Das tut mir leid.“
Sie lachte harsch. „Geliebte? Eine Geliebte wird auf Feiern mitgenommen. Sie bekommt Schmuck und Kleider und geht mit ihrem Herrn auf die Jagd. Es wird sich gut um ihre Familie gekümmert. Ich wurde nie als Geliebte respektiert.“ Sie atmete tief ein und fuhr fort: „Ich war nur eine Ablenkung. Er war meiner schnell überdrüssig. Zumindest dafür kann ich dankbar sein.“
„Deine Eltern... was ist mit denen geschehen?“
„Sie wurden bestraft.“ Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. „Weil sie dich haben ‚sterben lassen‘, nicht lange nach dem Verlust meines Bruders Faralyn. Vater verlor seine Position und wurde zu den niedersten Aufgaben abgestellt, wie Ställe ausmisten. Mutter starb, als ich acht war. Schwarzmoor schickte ihr in diesem Winter nicht mal einen Arzt. Vater starb wenige Jahre später. Ich nahm die kargen Ersparnisse und ging ohne einen Blick zurück. Schwarzmoor war es egal. Er war zu sehr mit Herrschen beschäftigt.“