„Herrschen?“ Thrall sah sie an.
„Natürlich erkennt niemand seinen Anspruch auf den Thron von Lordaeron an. Aber keiner traut sich, ihn da runterzustoßen.“
Thrall sank zurück und versuchte, es zu verstehen. „Erzähl weiter“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme.
„Er war so beliebt. Er begann nur mit seinen eigenen Männern, trainierte sie bis zur Perfektion.“
Thrall dachte an die endlosen Gladiatorenkämpfe, die er gezwungen gewesen war zu bestehen. Das klang auf eine verdrehte, seltsame Art nach Schwarzmoor.
„Dann heuerte er Söldner an und bildete sie genauso aus. Und nach dem Kampf um die Schwarzfelsspitze war er nicht mehr aufzuhalten.“
„Was ist dort geschehen?“
„Er tötete Orgrim Schicksalshammer im Zweikampf, sagte Taretha schnell und nahm eine Handvoll Beeren, die Thrall zuvor gesammelt hatte.
Thrall glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Schwarzmoor? Dieser weinerliche, betrunkene Feigling? Er hatte Orgrim Schicksalshammer, den Kriegshäuptling der Horde, zu einem Kampf herausgefordert? Und hatte gewonnen?
„Diese Niederlage hat die Grünhaut... tut mir leid, die Orcs völlig entmutigt“, korrigierte sich Taretha schnell. „Sie wurden Sklaven, Thrall. Ihre Geister waren gebrochen. Sie wurden nicht mal in Lagern gehalten, von denen du mir berichtet hast. Jeder wild herumlaufende Orc wird vom Königreich gekauft und entweder zum Dienst gezwungen, oder wenn er zu aufsässig ist, getötet.“
„Deshalb wolltest du mich lebend haben“, sagte Thrall leise.
Sie nickte. „Wenn ich einen wilden Orc mit zurückbrächte, könnte ich von dem Geld mehr als ein Jahr leben. Es ist... So ist es in meiner Welt, Thrall. So war sie schon immer. Aber...“ Taretha runzelte die Stirn. „... ich habe mich immer... nun, es war nie richtig. Nicht nur moralisch, sondern...“ Ihre Stimme verlor sich.
Thrall verstand, was sie zu sagen versuchte. „Es fühlte sich nie richtig an, weil es das nicht ist“, stellte Thrall fest. „Diese Zeitlinie ist falsch. Schwarzmoor ist tot, die Orcs haben ihr eigenes Land, und ich habe Freunde unter den Menschen gefunden.“ Er lächelte. „Beginnend mit dir.“
Sie lächelte schüchtern zurück und schüttelte den Kopf. „Es ist merkwürdig, aber... das erscheint mir richtig.“ Sie zögerte. „Mir ist aufgefallen, dass du nicht erwähnt hast, was mit mir in diesem anderen Zeitweg passiert ist.“
Er zuckte zusammen. „Ich hatte gehofft, dass du nicht fragen würdest. Doch ich hätte es besser wissen müssen.“
„Ich, ahm... ich hoffe mal, ich ende nicht wie diese Jaina Prachtmeer, von der du so viel gesprochen hast“, sagte sie und versuchte, gelassen zu wirken.
Er musterte sie gedankenvoll. Dann fragte er ernst: „Willst du das wirklich wissen?“
Taretha runzelte die Stirn, stocherte im Feuer, dann schob sie den Ast hinein und lehnte sich zurück. „Ja, ich will es wissen.“
Natürlich wollte sie das. Taretha war dem unangenehmen Dingen nie ausgewichen. Er hoffte nur, dass das, was er ihr sagen musste, sich nicht gegen ihn wenden würde. Doch es wäre falsch, ihr etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.
Er wartete einen Moment, sammelte seine Gedanken, und sie unterbrach ihn nicht. Das einzige Geräusch war das Knistern des Feuers und der sanfte Klang der Nachtkreaturen.
„Du bist gestorben“, sagte Thrall schließlich. „Schwarzmoor fand heraus, dass du mir geholfen hattest. Er war dir gefolgt, als du dich mit mir getroffen hast, und als du zurückkamst, tötete er dich.“
Sie machte kein Geräusch, aber ein Muskel in ihrem Gesicht zuckte. Dann sagte sie mit merkwürdig ruhiger Stimme: „Erzähl weiter. Wie bin ich gestorben?“
„Das weiß ich nicht genau“, antwortete Thrall. „Aber...“ Er schloss für einen Moment die Augen. Zuerst musste er den Mord an seinen Eltern miterleben und jetzt das. „Er hat dir den Kopf abgeschnitten und in einen Beutel gesteckt. Und als ich nach Durnholde kam und ihn bat, die Orc-Gefangenen freizulassen... warf er ihn mir zu.“
Taretha schlug die Hände vors Gesicht.
„Er dachte, das würde mich brechen. Und auf eine gewisse Weise hat es das auch – aber nicht so, wie er wollte.“ Thralls Stimme wurde tiefer. „Es machte mich wild. Wegen all dem, was er mir angetan hatte – weil er die Sorte Mann war, als die er sich erwiesen hatte. Ich würde ihm keine Gnade gewähren. Am Ende bedeutete dein Tod seinen. Ich habe mich immer gefragt, ob ich irgendetwas hätte tun können, um dich zu retten. Es tut mir leid, dass ich das nicht konnte, Taretha. So sehr leid.“
Sie hielt ihr Gesicht bedeckt, und als sie schließlich sprach, war ihre Stimme belegt und dumpf.
„Sag mir eins“, sagte sie. „Habe ich für einen Unterschied gesorgt?“
Er konnte nicht glauben, was sie da fragte. Verstand sie denn nicht, was er ihr erzählt hatte?
„Taretha“, sagte er. „Nur dank deiner Freundlichkeit konnte ich anderen Menschen vertrauen. Und deshalb war ich bereit, mich mit Jaina Prachtmeer zu verbünden. Nur dank dir glaubte ich, dass ich mehr war als... ein grünhäutiges Monster. Und deshalb war auch mein Volk – jeder Orc – mehr wert und durfte nicht wie Tiere behandelt werden.“
Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie hob den Kopf und wandte sich ihm zu. Tränen liefen ihr übers Gesicht.
„Taretha, treue Freundin“, sagte er, seine Stimme bebte. „Meine Schwester im Geiste. Du hast nicht nur einen Unterschied gemacht. Du hast den Unterschied gemacht.“
Zu seinem Erstaunen warf sie ihm ein zittriges Lächeln zu. „Du verstehst nicht“, sagte sie mit brechender Stimme. „Ich habe nie irgendeinen Unterschied gemacht. Ich habe nie gezählt. Ich habe nie auch nur eine Sache gemacht, die irgendetwas oder irgendjemand betroffen hätte.“
„Deine Eltern...“
Sie gab ein geringschätziges Geräusch von sich. „Die Eltern aus deiner Welt klingen liebevoller als meine. Ich war weiblich und ihnen nur von geringem Nutzen. Wir waren alle zu beschäftigt mit dem Versuch, zu überleben. Der Schulunterricht, über den du gesprochen hast – den habe ich nie bekommen. Ich kann nicht lesen, Thrall. Ich kann nicht schreiben.“
Thrall konnte sich nicht vorstellen, dass Taretha Analphabetin war. Gerade Bücher hatten sie einander überhaupt erst nähergebracht. Ohne ihre Nachrichten wäre er vielleicht nie geflohen. Er hatte ihr Schicksal im wahren Zeitweg für schrecklich gehalten. Er hatte gespürt, dass es ungerecht jemandem gegenüber war, der so freundlich und großherzig war. Doch auf eine Art war das Leben, das sie hier führte, noch schlimmer.
Aggra hatte ihn auf seinem schamanischen Ritus der Vision begleitet und auf eine gewisse Art Taretha auch „getroffen“.
Sie hätte nicht sterben sollen, hatte Thrall auf der spirituellen Reise gesagt.
Woher weißt du, dass das nicht ihre Bestimmung war? Vielleicht hatte sie alles getan, wozu sie geboren war?, hatte Aggra geantwortet. Das weiß nur sie.
Und Thrall erkannte mit einem Schlag seines Herzen, dass Taretha – in beiden Zeitwegen – es wusste.
„Das von dir zu hören – zu wissen, dass ich gezählt habe, für alle, ganz zu schweigen von den Nationen... und der Geschichte der Welt –, du weißt gar nicht, was das für mich bedeutet. Mir ist egal, ob ich gestorben bin. Mir ist egal, wie ich gestorben bin. Am Ende habe ich gezählt!“
„Das stimmt und es ist heute noch so“, sagte Thrall, seine Stimme klang eindringlich. „Du magst in dieser Welt noch keinen Unterschied ausgemacht haben. Aber das bedeutet ja nicht, dass du es nicht noch wirst.“
„Wenn ich einen wilden Orc mit zurückbrächte, könnte ich von dem Geld mehr als ein Jahr leben... So ist meine Welt, Thrall. So ist sie immer gewesen. Aber...“, Taretha runzelte die Stirn, ich habe immer gespürt... nun, dass es nicht richtig war. Nicht nur moralisch, sondern...“ Ihre Stimme verklang.