Thrall blinzelte. „Das hast du schon gesagt.“ Es war eine wichtige Einsicht, aber er verstand nicht, warum sie sie jetzt wiederholte.
Sie runzelte die Stirn. „Was habe ich gesagt?“
Die Luft fühlte sich anders an. Thrall stand auf und nahm Tarethas Gewehr. Er musste es Taretha hoch anrechnen, dass sie nicht in Panik verfiel. Stattdessen stand sie rasch auf und spähte in den Wald nach Feinden. „Hast du etwas gehört?“
„Das hast du getan und wirst es tun.“ Thrall saß neben ihr. „Du hast vielleicht jetzt noch keinen Unterschied gemacht. Aber das bedeutet ja nicht, dass du es nicht wirst...“
Er unterbrach sich mitten im Satz. Und dann verstand er.
„Der Zeitweg ist falsch“, sagte er. „Das wissen wir beide. Und etwas daran ist so falsch, so verkehrt, dass die Zeit nicht mal mehr korrekt fließt. Die Dinge... wiederholen sich. Die Dinge lösen sich auf.“
Taretha erbleichte, während er sprach. „Du meinst – du glaubst, diese Welt endet gerade?“
„Ich weiß nicht, was hier im Moment vorgeht“, sagte Thrall ehrlich. „Doch wir müssen herausfinden, wie wir es aufhalten können und aus diesem Zeitweg herauskommen. Ansonsten wird alles – deine Welt und meine und wer weiß, wie viele andere noch – zerstört werden.“
Sie wirkte ängstlich. Sie sah zum Feuer, biss sich auf die Lippe und dachte nach.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte Thrall sanft.
Sie blickte zu ihm auf und lächelte. „Die hast du. Ich werde einen Unterschied machen – mal wieder.“
10
Die Welt war still.
Es gab keinen Schrei der Wut, des Schmerzes oder der Freude. Nicht das sanfte Geräusch des Atmens. Kein einziger Schlag eines Flügels oder Herzens. Nicht das kaum wahrnehmbare Geräusch eines Blinzelns oder einer Pflanze, die Wurzeln schlug.
Nichts, nur totale Stille. Die Ozeane bewegten sich, ihre Wellen liefen den Strand hinauf, zogen sich wieder zurück. Und nichts existierte in ihren Tiefen. Der Wind blies, rüttelte an den Dachrinnen der Häuser, die niemanden beherbergten, strich durch Gras, das gelb wurde.
Ysera bewegte sich, sie war das einzige lebendige Wesen an diesem Ort. Ihr Unbehagen wurde größer, wurde zu Furcht, zu Schrecken.
Die Stunde des Zwielichts war gekommen.
Ihre Klauen trafen auf Erde, die aufgehört hatte, Leben zu spenden. Sie würde nie Leben spenden. Niemals würde sie einen Hauch von Grün hervorbringen. Ysera streifte über jeden Kontinent, hoffte verzweifelt, dass irgendwo ein Ort verschont worden war.
Tot, alles tot. Keine Drachen, keine Menschen oder Elfen oder Orcs, keine Fische, keine Vögel, keine Bäume, kein Gras, keine Insekten. Mit jedem bitteren Schritt trat Ysera auf ein Massengrab.
Warum war sie am Leben?
Sie schrumpfte bei der Frage, fürchtete die Antwort und ging weiter.
Die Beutebucht, Orgrimmar, Donnerfels, Dunkelhain, Desolace – Leichen lagen überall herum, verrottet, sogar von den Aasfressern verschont, weil die selbst verrottet waren. Ysera spürte, wie sie angesichts der Brutalität des Augenblicks der Wahnsinn umfing, und verdrängte das Gefühl rücksichtslos.
Unser Tempel...
Sie wollte ihn nicht sehen und doch musste sie es...
Und dort war sie, am Fuß des Tempels, ihre großen, einst schlafenden Augen standen weit offen.
Hier gab es Flügelschläge. Und Atmen und Schreie von einem hasserfüllten Sieg. Die Luft rauschte von den Zwielichtdrachen, den letzten Wesen, die lebendig waren und auf dem Leichnam der Welt triumphierten. Am Fuß des Wyrmruhtempels lagen die Leichen der mächtigen Aspekte. Alexstrasza, zu Tode verbrannt, ihre Rippen verkohlt und herausstechend. Ein blauer Aspekt, dessen Gesicht sie nicht erkennen konnte, eingefroren in den Zuckungen des Schmerzes. Nozdormu, der Zeitlose, der nun in der Zeit feststeckte, reglos wie ein Stein. Und ihr eigener Körper, überwachsen mit dem, was einst grün und lebendig gewesen war. Doch jetzt waren sogar die Ranken, die sich um ihre Kehle geschlungen hatten, um sie zu erdrosseln, tot. Jeder Aspekt schien von seinen oder ihren eigenen speziellen Kräften getötet worden zu sein.
Doch das war es nicht, weshalb ihr kalt wurde vor Schrecken.
Ysera, die Erwachende, starrte auf einen einzigen riesigen Körper. Er wurde von dem schwachen, düsteren Licht des Zwielichthimmels von Nordend beleuchtet, ein schlaffes und ebenso regloses Ding.
Es war auf der obersten Spitze des Wyrmruhtempels aufgespießt, während die aufgeblasene rotorange Sonne dahinter mürrisch unterging.
Ysera sank zur Erde, zitterte, wollte sich die Augen ausreißen und konnte es doch nicht.
„Todesschwinge“, flüsterte sie.
Sie sprang zurück in die Realität, ihre Gedanken klärten sich, obwohl ihr Körper noch von der Vision zitterte. Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: „Nein, nein, nein...“
Es war eine Vision, aber eine, von der sie wusste, dass sie nicht in Stein gemeißelt war. Eine, die noch verändert werden konnte... doch nur, wenn ein Orc das tat.
Thrall, ich weiß nicht, was Eure Rolle hierbei ist, doch ich bitte Euch... bitte, bitte, versagt nicht.
Lasst diese Welt nicht so still werden.
Die Frage war, wie konnten sie den Zeitweg korrigieren?
„Erzähl mir alles, was geschehen ist, beginnend mit meinem Tod“, sagte Thrall.
„Das... ist eine ganze Menge“, antwortete Taretha. „Wie ich bereits sagte, stürzte Schwarzmoor sich in seine Aufgabe. Er trainierte und schliff seine Männer und dann die Söldner. Nach dem Kampf um die Schwarzfelsspitze löste er sein persönliches Militär nicht auf. Sobald sich die Orcs ergeben hatten, traf er eine geheime Absprache mit ihnen – eine Absprache, die den Rest der Allianz erschreckte. Die Orcs sollten sich mit Schwarzmoors eigener Armee verbünden und Schwarzmoor würde sich gegen König Terenas und die anderen wenden und sie töten. Errätst du, was sie getan haben?“
Thrall nickte. „Natürlich. Sie sind darauf eingegangen. Schließlich kämpften sie ja gegen denselben Feind. Und so fiel Terenas.“
Taretha nickte. „Und so erging es auch Uther, dem Lichtbringer, und Anduin Lothar.“
In Thralls Zeitweg war Lothar gestorben, als er in der Schlacht an der Schwarzfelsspitze gegen Schicksalshammer kämpfte. „Was ist mit Prinz Varian?“
„Sowohl Varian wie auch Arthas, Terenas’ Sohn, waren zu jung zum Kämpfen. Sie flohen und beide überlebten.“
Arthas... der gefallene Paladin... der Lichkönig.
„Gab es merkwürdige Krankheiten im Land? Vergiftetes Korn, Seuchen?“
Taretha schüttelte den blonden Kopf. „Nein, nichts davon.“
Das traf Thrall wie ein Schlag. In dieser Welt lebte Schwarzmoor noch, das war nur zu wahr und verachtenswert. Aber Taretha lebte auch... und unzählige Unschuldige, die weder zu Geißeldienern noch zu Vergessenen geworden waren.
„Kennst du den Namen Kel’Thuzad?“, fragte er. Kel’Thuzad, ein früheres Mitglied des Herrscherrates von Dalaran, hatte in Thralls Zeitlinie nach Macht gegiert. Die Lust auf Macht hatte ihn auf dunkle Wege geführt. Wege, die ihn mit den Übergängen zwischen Leben und Tod experimentieren ließen. Bei solch einer Neigung war es nur passend, dass Arthas Kel’Thuzads Körper als Lich wiederbelebt hatte.
„Oh ja“, sagte Taretha und verzog das Gesicht. „Schwarzmoors oberster Berater.“
Also war Kel’Thuzad dem Lockruf der Macht auch in diesem Zeitweg erlegen. Nur dass es hier sterbliche, politische Macht war und nicht alte, böse, die ihn verführt hatte.
„Antonidas und Dalaran haben alle Verbindung mit ihm abgebrochen“, fuhr Taretha fort. „Sie wollen lieber unbefangen sein, doch es gibt Gerüchte, dass ihre Treue eher Sturmwind als Lordaeron gilt, auch wenn die Magierstadt so nahe liegt.“ Sie zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, wie verlässlich diese Angaben sind. Ich höre nur hier und dort etwas, wenn ich nach Süderstade reise.“