Der Name sagte ihm nichts. Aber es war eine interessante Wortwahl...
„Uns?“, sagte Krasus milde, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. In Wahrheit war der Orc beeindruckender als die Frau. Größer als die meisten, war er kräftig und mit Muskeln überzogen, trug aber nur ein einfaches braunes Gewand. Auch seine Hände waren schwielig – jedoch vom Waffengebrauch, nicht von der Arbeit auf den Feldern. Es war ein Unterschied, wie man eine Waffe griff oder ein Werkzeug. Und Krasus hatte genug Krieger gesehen, um einen zu erkennen, wenn er vor ihm stand. Der Orc hatte auch nicht so abgebaut wie die meisten seiner Art und er begegnete Krasus’ Blick gleichmütig.
Mit blauen Augen.
„Bemerkenswert“, murmelte Krasus. „Wer seid Ihr?“
„Mein Name“, sagte der Orc, „ist Thrall.“
„Ein passender Name für einen Sklaven. Aber ehrlich gesagt, dafür halte ich dich nicht“, sagte Krasus. Er streckte die Hand aus, die immer noch die Eichel umschloss. „Sehr schlau, das zu benutzen, um Zugang zu mir zu erhalten. Ihr wusstet, dass ich das Wissen darin spüren würde. Wie seid Ihr an so ein wertvolles Ding gekommen?“
Er war nicht überrascht, als Taretha Thrall fragend anblickte.
„Ich habe... eine Geschichte zu erzählen, Magier“, sagte Thrall. „Oder sollte ich Euch lieber... Drachenlord nennen?“
Krasus behielt sein ruhiges Gesicht, doch ein Schreck durchfuhr ihn. Nur sehr wenige wussten von seiner wahren Identität als Korialstrasz, dem Gefährten von Alexstrasza. Und bis zu dieser Sekunde hatte er geglaubt, dass er jeden davon kannte.
„Dieser Tag“, sagte Krasus mit erzwungener Ruhe, „wird immer interessanter. Kommt und setzt Euch, und ich lasse etwas zu essen bringen. Ich vermute, dass diese Geschichte etwas länger dauern könnte.“
Er hatte recht. Taretha und Thrall setzten sich in die großen Stühle – Letzterer ziemlich behutsam – und begannen zu sprechen. Sie legten eine Pause zum Essen ein – einfacher Tee und Kekse, über die das arme Mädchen wie ein hungriger Wolf herfiel –, doch davon abgesehen nahm die Geschichte fast ohne Unterbrechungen den größeren Teil des Nachmittags ein. Krasus unterbrach hin und wieder für einige Fragen oder um etwas klarzustellen, doch die meiste Zeit hörte er einfach zu.
Es war verrückt. Es war absurd. Aberwitzig.
Es war aber auch völlig logisch.
Erfundene Geschichten waren voller Löcher. Das war Korialstrasz klar, der durch die vielen Jahrtausende seines Lebens schon so einige gehört hatte. Stets gab es Stellen, die nicht stimmten. Doch während dieser merkwürdige Orc von Dingen sprach, die unmöglich erschienen, wusste Korialstrasz, dass sie das nicht waren. Wie Krasus kannte Thrall die Natur von Ysera der Träumerin und ihrem Schwarm. Thrall sagte, die Eichel, die Krasus immer noch in der Hand hielt, sei ein Geschenk gewesen. Krasus spürte, dass in der Eichel ein Friede lag, der nicht vorhanden gewesen wäre, wenn sie durch Zufall gefunden worden wäre oder sie jemand gewaltsam in seinen Besitz gebracht hätte. Der Orc wusste, wie die Zeitwege funktionierten. Er kannte sogar die Namen der Bronzedrachen, die Freunde von Korialstrasz und seiner Königin waren.
Kein Orc-Sklave konnte solche Dinge wissen.
Als Thrall geendet hatte, nahm Krasus einen Schluck Tee, untersuchte die wertvolle Eichel in seiner Hand, dann gab er sie zurück und ließ sie in Thralls Hand fallen.
„Das ist nicht für mich“, sagte er leise. „Nicht wirklich, oder?“ Es war eine Feststellung, keine echte Frage.
Thrall sah ihn einen Moment lang an, schüttelte den Kopf und steckte die Eichel in seinen Beutel. „Ich soll sie pflanzen, wo es richtig erscheint“, antwortete er. „Ich glaube nicht, dass Dalaran der Ort dafür ist.“
Korialstrasz nickte. Er hatte dasselbe in der Eichel gespürt.
„Ich verachte Aedelas Schwarzmoor von Herzen“, fuhr der Drachenmagier fort. „Fast jeder tut das, es sei denn, er steht in seinen Diensten, und ich würde zu behaupten wagen, dass selbst solche Leute nur das Geld lieben, nicht den Mann. Ich würde seinen Verlust nicht betrauern, würde er aufgeschlitzt, wie Ihr es beschrieben habt. Aber das würde die Dinge nicht korrigieren, Thrall. Während mir die Notwendigkeit klar ist, den richtigen Zeitweg wiederherzustellen, weiß ich doch, dass Ihr nur wenige Lebewesen finden werdet, die Eure Welt ihrer eigenen vorziehen. Seuchen, ein Lichkönig, Dalaran zerstört und wiederaufgebaut, Orcs, die ihre eigene Heimat haben – das wird ein harter Kampf, mein Freund.“
„Aber es ist das Richtige“, sagte Thrall. „Wenn es nicht korrigiert wird, dann wird mein Zeitweg – der echte – vernichtet! Und dieser hier ist bereits dem Untergang geweiht!“
„Ich weiß das. Ihr wisst das. Ein paar Mitglieder der Kirin Tor wissen das. Der bronzene Drachenschwarm weiß es sicherlich auch. Doch Ihr sprecht von einem Massenumbruch einer ganzen Welt.“ Er wies auf die schwebende Sphäre, die Azeroth bildete.
Thrall stand auf und ging zu der Kugel hinüber. Er beobachtete, wie dünne Miniaturwolken über die Oberfläche glitten. Er beobachtete sie scharf, traf aber keine Anstalten, sie zu berühren.
„Das... ist echt, oder?“, fragte er.
Neugierig erhob sich Taretha und trat zu ihm. Ihre Augen weiteten sich, als sie die sich langsam drehende Kugel betrachtete.
„Lasst es mich so sagen“, antwortete Krasus. „Ihr könntet die Welt nicht mit der Faust zerquetschen, wenn es Euch darum geht.“
„Nein... doch das würde zumindest ein Problem lösen, oder?“, sagte Thrall ironisch.
„Das könnte sein“, stimmte Krasus zu, seine Lippen pressten sich vor Vergnügen zusammen.
„Aber... sind wir darauf? Oder nur Kopien von uns?“, fragte Thrall.
„Ja, genau hier“, sagte Krasus. „Unsere... geistige Essenz, einen besseren Ausdruck habe ich nicht, kann aufgespürt werden.“
„Und Ihr könntet Arthas oder Varian finden?“
„Nicht wirklich. Ich weiß, wo wir sind, weil... gut... ich weiß, wo wir sind“, sagte Krasus. „Ich kann spüren, dass Arthas auf dieser Welt ist, aber...“ Seine dunklen Augen weiteten sich. „Ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt.“
„Hinterlassen die Toten... solche Signaturspuren?“
„Das tun sie“, sagte Krasus. „Ihr wollt, dass ich Schwarzmoor suche.“
Der Orc nickte.
Krasus zog eine Augenbraue hoch, dann hob er die Hand. Er spreizte die Finger vorsichtig und hielt sie wenige Zentimeter über die weißen Wolken, während die Nachbildung von Azeroth sich drehte. Er runzelte die Stirn. Langsam trat er um den Globus herum, hielt weiter seine Hand darüber. Schließlich senkte er sie und wandte sich an Thrall. „Deine Ahnung war richtig“, sagte Krasus. „Aedelas Schwarzmoor ist nirgendwo auf dieser Welt.“
„Was bedeutet das?“, fragte Taretha mit leiser Stimme.
„Nun, es könnte mehrere Dinge bedeuten“, antwortete Krasus. „Er könnte einen Weg gefunden haben, seine Signatur zu verbergen. Oder sein Geist kann gestohlen worden sein. Das passiert von Zeit zu Zeit. Er könnte physisch nicht auf dieser Welt sein. Wir beide wissen, es gibt Wege zu anderen existierenden Welten.“ Krasus sah zu Thrall und runzelte die Stirn. Der Orc wirkte aufgeregt und versuchte offensichtlich, sich selbst zu beruhigen. „Thrall, was ist los?“
Thrall antwortete nicht. Er wandte sich stattdessen an Taretha und legte seine große Hand auf ihre Schulter. „Tari... du hast gesagt, dass Schwarzmoor Orgrim Schicksalshammer im Zweikampfbesiegt hat.“
Sie nickte. „Ja, das stimmt.“
„Hat er... den Schicksalshammer genommen? Oder Orgrims Rüstung?“
„Der Hammer wurde im Kampf zerschmettert, das sagen alle“, antwortete Taretha. „Und die Rüstung war ihm zu groß.“
Thrall entspannte sich etwas. Er schien erleichtert. „Natürlich nicht. Er könnte sie kaum tragen.“
Taretha nickte. „Deshalb nahm er nur ein paar symbolische Platten. Er verwendete sie als Teil einer ganz neuen Rüstung, die speziell für ihn entworfen wurde.“
Die Hand des Orcs fiel von ihrer Schulter und er starrte sie an.