„Ich glaube, das ist das Beste“, stimmte Thrall zu.
Beim Näherkommen sah er die kleine Gestalt besser. Noch konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, doch sie war eng zusammengekauert, hatte die Beine an die Brust gedrückt und den rothaarigen Kopf darüber gelegt. Jeder Zoll an ihr schien vor Schmerz und Verzweiflung zu schreien.
Der Bronzedrache landete etwas abseits und legte sich nieder, damit Thrall absteigen konnte.
„Kommt hierher zurück, wenn Ihr zum Rückflug bereit seid“, sagte Tick.
„Ich hoffe ja, dass Alexstrasza und ich gemeinsam zurückkehren werden“, antwortete Thrall.
Tick schaute düster drein. „Kommt zurück, wenn Ihr zum Rückflug bereit seid“, wiederholte sie und schoss in den Himmel.
Thrall seufzte, blickte zur Bergspitze hinauf und machte sich an den Aufstieg.
„Ich höre Euch, Orc“, sagte Alexstrasza, bevor er auch nur die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Ihre Stimme war schön, klang aber gebrochen. Wie eine wundervolle Glasskulptur, die von unvorsichtiger Hand beschädigt worden war – immer noch glänzend, immer noch anmutig, aber nicht mehr heil.
„Ich wollte mich nicht an Euch heranschleichen“, antwortete Thrall.
Sie sagte nichts weiter. Er beendete den Aufstieg und setzte sich neben sie auf den harten Stein. Sie gewährte ihm nicht einen Blick und schon gar kein Wort.
Nach einer Weile sagte er: „Ich weiß, wer Ihr seid, Lebensbinderin. Ich...“
Sie wirbelte zu ihm herum, ihr erdiges, schönes Gesicht war wutverzerrt, die Zähne gefletscht. „Nennt mich nicht mehr so! Niemals! Ich binde kein Leben mehr. Nie mehr.“
Ihr Ausbruch erschreckte ihn, überraschte ihn aber nicht. Er nickte. „Wie Ihr wollt. Ich bin Thrall, einst war ich Kriegshäuptling der Horde, nun bin ich Mitglied des Irdenen Rings.“
„Ich weiß, wer Ihr seid.“
Thrall wich ein wenig zurück, fuhr aber fort: „Es ist ganz egal, wie ich Euch nun nennen soll. Ich habe den Auftrag, Euch zu finden.“
„Wer hat Euch beauftragt?“, fragte sie. Ihre Stimme und ihre Miene waren wieder ausdruckslos, als sie sich abwandte und in die leere, hässliche Landschaft blickte.
„Ysera und Nozdormu.“
Kurz schien Interesse in ihrem Gesicht aufzuflammen. So wie das Aufblitzen von etwas Glitzerndem auf dem Wasser. „Er ist zurück?“
„Ich habe ihn gesucht und gefunden, so wie ich Euch gesucht und gefunden habe“, antwortete Thrall. „Er hat sehr viel erfahren – und vieles davon solltet auch Ihr hören.“
Sie antwortete nicht. Die heiße Luft spielte mit ihren dunkelroten Locken. Thrall wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Er war auf Trauer und Wut vorbereitet gewesen, aber diese teilnahmslose, tödliche Verzweiflung...
Er berichtete ihr, was geschehen war. Dabei versuchte er, die Geschehnisse wie eine Geschichte klingen zu lassen. Wenn er doch nur etwas Interesse wecken könnte... irgendetwas, was diesen schrecklichen, einer Totenmaske ähnlichen, bleichen Gesichtsausdruck verschwinden ließ. Er berichtete von Ysera und dem Feuerelementar, der versucht hatte, die Urtume zu vernichten. Der Wind blies, heiß und grausam, und dennoch blieb Alexstrasza so unbeweglich, als wäre sie aus Stein gemeißelt.
„Die Urtume haben gesprochen“, fuhr Thrall fort. „Ihre Erinnerungen werden wirr. Jemand beschädigt die Zeitwege.“
„Das weiß ich“, antwortete sie schroff. „Ich weiß, dass die Bronzedrachen darüber besorgt sind. Sie nehmen die Hilfe der Sterblichen an, um die Fehler zu korrigieren. Ihr erzählt mir nichts Neues, Thrall, und schon gar nichts, was mich zur Rückkehr bewegen könnte.“
Ihre Worte waren giftig. Hass lag darin – aber Hass, das wusste Thrall, der nicht gegen ihn gerichtet war. Er war auf Alexstrasza selbst gerichtet.
Er drängte weiter. „Nozdormu glaubt, dass viele Dinge miteinander verbunden sind. Es sind keine isolierten Ereignisse. All die schrecklichen Dinge, die die Aspekte erleiden mussten: der mysteriöse Angriff des ewigen Drachenschwarms, der Smaragdgrüne Albtraum – selbst der Wahnsinn von Todesschwinge und Malygos. Nozdormu spürt in all dem ein Muster. Das Muster eines Angriffs, der sich gegen die Aspekte und ihre Schwärme richtet. Ein Angriff, der sie niederringen und wohl sogar vernichten soll. Oder er sorgt dafür, dass sie sich gegeneinander wenden.“
„Wer sollte so etwas tun, wenn das wirklich wahr ist?“, murmelte sie leise.
Thrall fühlte sich durch dieses schwache Zeichen der Neugierde ermutigt. „Nozdormu braucht mehr Zeit, um es herauszufinden“, antwortete er. „Momentan vermutet er, dass der ewige Drachenschwarm daran beteiligt ist.“
Stille trat ein. „Ich verstehe.“
„Nozdormu bat mich, Euch zu finden und Euch zu helfen. Zu helfen, Euch zu heilen.“ Thrall mochte kaum glauben, dass er, ein einfacher Orc-Schamane, die Lebensbinderin heilen konnte. Sie, die vielleicht größte Heilerin aller Zeiten. Er erwartete beinahe, dass sie das Angebot ablehnte, doch sie schwieg. Also fuhr er fort. „Wenn Ihr Euch erholt, werden viele andere Dinge auch geheilt. Gemeinsam können wir zum Nexus fliegen, mit den blauen Drachen reden und ihnen dabei helfen, Klarheit zu erlangen. Dann...“
„Warum?“ Die Frage war simpel, geradeheraus gestellt und machte ihn einen Augenblick sprachlos.
„Weil... es ihnen helfen wird.“
„Ich frage noch maclass="underline" Warum?“
„Wenn wir den blauen Drachen helfen, können sie sich mit uns verbünden und wir können herausfinden, was los ist. Und wenn wir das herausgefunden haben, können wir es ändern. Wir können den Schattenhammerkult bekämpfen und schlagen. Aufdecken, was die Motive des ewigen Drachenschwarms sind. Todesschwinge ein für alle Mal aufhalten... und diese Welt retten, die gerade in Stücke gerissen wird.“
Sie starrte ihn an, ihre Augen durchbohrten ihn förmlich.
Eine lange Zeit sagte sie nichts.
„Ihr versteht es nicht“, sagte sie schließlich.
„Was verstehe ich nicht, Alexstrasza?“, fragte er sehr sanft.
„Dass alles egal ist.“
„Was meint Ihr damit? Wir haben Informationen. Wir wissen, dass all diese Ereignisse Teil eines großen Plans sind, der vielleicht schon seit Jahrtausenden verfolgt wird! Wir könnten sie vielleicht aufhalten!“
Alexstrasza schüttelte langsam den Kopf. „Nein. Das ist egal. Alles. Es ist egal, ob alles miteinander in Verbindung steht. Es ist egal, wie lange das schon so läuft. Es ist auch egal, ob wir es aufhalten können.“
Er starrte sie verständnislos an.
„Die Kinder“, sagte sie gepresst, „sind tot. Korialstrasz ist tot. Ich bin praktisch auch schon tot, lange wird es nicht mehr dauern. Es gibt keine Hoffnung mehr. Nichts ist mehr da. Nichts ist wichtig.“
Thrall wurde plötzlich wütend. Er spürte immer noch den Verlust von Taretha als stillen Schmerz in seinem Herzen. Ihr Verlust war notwendig gewesen, wenn alles so ablaufen sollte, wie es richtig war. Doch er würde sie vermissen, stets und immer. Er dachte daran, wie wichtig es ihr gewesen war, einen Unterschied zu machen, zu zählen. Sie hatte gewusst, dass sie nur wenig tun konnte. Doch sie hatte gegeben, was sie geben konnte. Die Lebensbinderin konnte sicherlich leicht mit einer Schuppe Dinge erreichen, die Taretha nicht einmal verstand. Und dennoch zog der rote Drache es vor, hierzubleiben und sich darauf zu versteifen, dass alles nicht wichtig war.
Die Dinge waren wichtig. Taretha war wichtig. Azeroth war wichtig. Egal, was Alexstrasza auch erlitten hatte, sie hatte nicht das Vorrecht, sich in ihrem Schmerz zu suhlen.
Er drängte die Wut zurück und milderte sie mit Mitgefühl, das er wahrlich für Alexstrasza empfand. „Es tut mir leid, dass Ihr Eure Eier verloren habt, dass Ihr mehr als eine Generation verloren habt. Ich kann mir Euren Schmerz nicht einmal vorstellen. Und es tut mir leid, dass Ihr Euren Gefährten verloren habt, besonders auf diese Art. Aber... ich kann nicht glauben, dass Ihr all denen, die Euch jetzt brauchen, den Rücken zuwendet“, sagte er und Wut lag in seiner Stimme. „Seid ein Aspekt, um der Urtume willen. Für diese Aufgabe wurdet Ihr einst geschaffen. Ihr...“