Kalec verschränkte die Arme und blickte einen langen, nachdenklichen Moment den Orc an. Etwas sagte ihm, dass Thrall hier sein musste. Es war schon mehr als Respekt, den alle Drachen vor der Meinung eines Aspekts haben sollten. Wenn die Welt tatsächlich dieser Art Gefahr gegenübertrat, die Nozdormu vermutete, dann konnten es sich die blauen Drachen nicht leisten, irgendeinen Rat zu ignorieren, egal aus welcher Quelle. Sie konnten es sich ebenso wenig leisten, sich aus einem falschen Gefühl der Überlegenheit heraus, geboren aus Ignoranz und Arroganz, zu isolieren. Er richtete seinen durchdringenden Blick auf Tick, hob fragend eine Augenbraue. Der Bronzedrache erwiderte Kalecs Blick gelassen. In diesen Augen las Kalec eine unerschütterliche Sicherheit, die seine eigene widerspiegelte. Er traf eine Entscheidung. Es war ein riskantes Spiel, aber eins, das er sehr gut kannte.
„Thrall bleibt“, sagte Kalecgos ruhig, „oder ich gehe.“
Ein unglückliches Murmeln stieg auf.
Arygos sagte nichts, doch sein Schwanz zuckte.
„Ich habe deinen Vater Malygos geehrt und respektiert – für das, was er war, und als der Aspekt, der er war. Doch seine Entscheidungen waren falsch, nicht nur für andere, auch für uns. Es kann sein, dass auch wir letztlich den falschen Weg beschreiten. Doch solange ich atme und in meinem Körper Leben ist, werde ich so einen Pfad niemals wissentlich einschlagen. Thrall soll hierbleiben, er hat für die Drachenschwärme fast so viel getan wie die meisten Drachen. Ich wiederhole: Wenn er geht, gehe ich auch. Und andere mit mir.“
Es war keine leere Drohung. Wenn Arygos eine Spaltung erzwingen wollte, dann sollte es hier und jetzt geschehen. Kalecgos würde den Nexus nicht allein verlassen. Und Arygos konnte das nicht zulassen. Zu vieles lag im Ungewissen.
Arygos schwieg mehrere Herzschläge lang. Dann eilte er zu Thrall, senkte den Kopf herab, bis er nur noch wenige Zentimeter von dem Orc entfernt in der Luft schwebte. „Ihr seid hier Gast“, dröhnte er und wiederholte seine früheren Worte. „Ihr erweist uns Respekt und Höflichkeit und gehorcht unseren Wünschen.“
„Ich bin Botschafter“, sagte Thrall. „Das ist mir bewusst. Ich habe zu meiner Zeit mit vielen Botschaftern zu tun gehabt, Arygos. Ich verstehe mich auf Respekt und Höflichkeit.“ Dabei schien er das Wörtchen „ich“ zu betonen.
Arygos’ Nüstern leuchteten, dann wandte er sich an den Bronzedrachen. „Tick, du wirst hier nicht mehr gebraucht. Thrall fällt jetzt unter unsere Verantwortung.“
Tick widersprach nicht. Sie verneigte sich so tief, dass es schon an Spott grenzte. „Ich kehre zu meinem Schwarm zurück. Pass gut auf ihn auf, Arygos.“
Arygos sah zu, wie sie wegflog, dann wandte er sich wieder an die versammelten blauen Drachen. „Ich glaube, es könnte neue Informationen bezüglich dieses... Rituals... geben“, sagte der Drache. „Lasst uns die Magier anhören, die gerade zurückgekehrt sind.“
Wie sich herausstellte, hatten die Neuankömmlinge nur sehr wenig herausgefunden. Wie viele Gelehrte, die ihr Hauptaugenmerk nur auf die Details des Arkanen gerichtet hatten, erregten sie sich schon über die Entdeckung von ein paar magischen Nuancen, die etwas Erleuchtung in den Prozess der Bestimmung eines neuen Aspekts brachten. Doch letztlich waren diese von keiner großen Bedeutung. Nach einigen Diskussionen und mehreren Streitereien – von denen eine in lautes Gebrüll ausartete und mit einem Beinaheangriff auf einen von Kalecs Kollegen endete – wurden weitere Nachforschungen vereinbart, wobei niemand wusste, ob dabei etwas herauskommen würde. Thrall saß still in seiner kleinen Ecke, nahm an dem Essen teil und lauschte. Er sagte beinahe nichts, sprach nur, um nach Erläuterungen zu fragen. Den Rest der Zeit lehnte er sich zurück, verschränkte die Arme über seiner breiten Brust und sah einfach zu.
Als das Treffen vorbei war, herrschte reges Durcheinander und viele Blicke wanderten zu dem Orc. Schließlich verließen die meisten der blauen Drachen den Raum. Arygos war der Letzte, der ging, und hielt kurz am Ausgang der Höhle inne. Er hob den Kopf, drehte ihn über die Schulter und starrte Thrall böse an. Er sagte nichts, doch Thrall sank trotz des Niederstarrens nicht in sich zusammen. Schließlich verengte Arygos die Augen, wandte sich ab und ging.
Kalecgos atmete aus, beschwor einen zweiten einfachen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Er legte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich die müden Augen.
„Ich habe einige Spannungen während der Versammlung gespürt“, sagte Thrall.
Kalec lachte. Er winkte mit der Hand, erschuf einen Weinkelch und nahm einen Schluck. „Ihr habt die Gabe der Untertreibung, Freund Thrall. Ich rechnete bei mindestens drei Gelegenheiten allein an diesem Nachmittag mit Gewaltausbrüchen. Vielleicht ist es Eure Anwesenheit, die Arygos zurückhält. Nach allem, was seinem Vater geschehen ist, will er sicher nicht vor jemandem sprunghaft wirken, der das Ohr von zwei Aspekten hat. Allein dafür spendiere ich Euch eines Tages ein Bier in einer Taverne, wenn Ihr es am wenigsten erwartet.“ Er grinste. Seine blauen Augen blitzten vor Fröhlichkeit.
Thrall merkte, wie er zurücklächelte. Er mochte Kalec. Der junge blaue Drache war recht angenehm in seiner Elfengestalt. Thrall erkannte, dass Kalec ihn an Desharin erinnerte, und seine Stimmung wurde bittersüß. Er spürte, wie sein Lächeln erstarb.
Kalec entging die Veränderung nicht. „Stimmt etwas nicht?“
„Da war ein anderer Drache, den ich auf meiner Reise getroffen habe. Er war wie Ihr. Er hieß Desharin. Er war...“
„... ein grüner Drache“, beendete Kalec den Satz, seine Augen waren düster geworden. „Er ist nicht mehr.“
Thrall nickte. „Er half mir auf meiner Reise, brachte mich zu den Höhlen der Zeit. Dort wurde er von einem Angreifer getötet, der uns beide überfiel, während wir meditierten.“
Er konnte die Wut nicht aus der Stimme verbannen und Kalec nickte. „Effektiv... doch die Taktik eines Feiglings.“
Thrall schwieg einen Moment. „Ja“, stimmte er ihm zu. „Ich habe im letzten Zeitweg, in dem ich gefangen war, entdeckt, wer das war. Ihr kennt wohl Aedelas Schwarzmoor nicht und darüber bin ich froh. In diesem Zeitweg ist er glücklicherweise unbedeutend. Er fand mich, als ich ein Kind war, und bildete mich zum Gladiator aus. Sein Ziel war es, mich an die Spitze einer Armee aus Orcs zu setzen und die Allianz zu unterwerfen.“
„Offensichtlich hatte er keinen Erfolg damit“, sagte Kalec.
„Nicht auf diesem Zeitweg. In dem anderen starb ich als Kind und Schwarzmoor stieg selbst auf, um die Armee zu führen.“
„Ein erschreckendes Szenario“, erwiderte Kalec, „aber Ihr sagtet, er griff Euch außerhalb der Zeitwege an. Wie...?“ Seine Augen weiteten sich, als er es verstand. „Der ewige Drachenschwarm muss ihn aus dem Zeitweg gerissen haben, damit er Euch jagen kann.“
Thrall nickte.
„Beängstigend, dass sie so etwas können.“
„Alles, was ich auf dieser Reise gelernt habe, ist verstörend“, erklärte Thrall. Er blickte auf seinen Krug. „Außer der Tatsache, dass herbeigezaubertes Bier einfach köstlich schmeckt.“ Er prostete seinem Gastgeber zu und lachte.
Kalecgos warf den blauen Kopf zurück und lachte ebenfalls.
Die Monde hatten fast ihre Mitternachtsposition erreicht, doch das konnte man nicht ändern. Arygos konnte keinen weiteren Abend warten, um seine Sache durchzuziehen. Wie alle blauen Drachen spürte er die Kälte nicht, während seine Flügel gleichmäßig schlugen und ihn durch die frostige Nacht trugen, die so klar war, dass die Sterne wie Eisstückchen am Himmel prangten.
Er achtete peinlichst darauf, dass er nicht verfolgt wurde, und drehte sich oft um. Stetig flog er nach Osten, seine Flügel schlugen schnell. Die zackigen Gipfel von Kaltarra wichen flacheren Landschaften. Quellen aus siedend heißem Wasser, die direkt aus Azeroths Herzen entsprangen, spien und zischten. Geysire, Dampfquellen, überflutete Ebenen – er ignorierte sie, besessen von seinem Ziel.